Temporeiche Aufführung von „Le nozze di Figaro“ hält Zuschauer im Stadttheater dreieinhalb Stunden in Atem
Mit Volldampf ging es hinein in die Welt der listenreichen Verwicklungen, Verführungen und Verschwörungen, der Verwechslungen und Verkleidungen, wie sie sich musikalisch und dramatisch in Wolfgang Mozarts Opern aller Opern entfaltet, nämlich in „Le nozze di Figaro“. Noch bevor der Vorhang sich hob, gab Generalmusikdirektor Michael Hofstetter mit der rasanten Ouvertüre das Tempo des Abends vor, das die Zuschauer dann über dreieinhalb Stunden höchst erquicklich in Atem hielt. Mit dieser äußerst erfolgreichen Premiere vollendet das Theater seinen Zyklus der drei berühmten Mozart-Opern, die aus der Zusammenarbeit des Komponisten mit dem italienischen Textdichter Lorenzo Da Ponte hervorgegangen sind.
Zwar frisch und mit jugendlich-übermütigem Schwung vom Ensemble umgesetzt, handelte es sich bei der Aufführung am Samstag genau genommen nicht um eine Neuinszenierung (und auch nicht um eine „Weiterentwicklung“, wie das Programmheft behauptet), sondern um eine unveränderte Wiederaufnahme der Fassung von Thomas Goritzki aus dem Jahr 2011 (die szenische Einstudierung übernahm Stephanie Kuhlmann). Das machte aber überhaupt nichts. Goritzki betont das Komödiantische, das bis zum Slapstickhaften gehende Komische der Oper und setzt dabei stark auf die schauspielerischen Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger. Das ist im besten Sinne des Wortes Musiktheater, wo die Bewegungen, das Sprechen und Singen der Dramatis personae von der Musik getragen, von der Musik gelenkt, fallweise von der Musik konterkariert werden. Durch die Bank sind die Darsteller der Wiederaufnahme neu besetzt, und – nicht ganz unerheblich – am Pult steht eine andere Dirigentenpersönlichkeit. In diesem Sinne findet hier etwas Neues statt.
Ihr komödiantisches Talent dürfen die Sängerinnen und Sänger innen auf einer äußerst einfach gehaltenen Bühne entfalten, ihre historisierenden Kostüme (beides von Heiko Mönnich) stehen in einem gewissen Kontrast zur Askese der runden, roh zusammengezimmerten Holzkreise, die mit sehr simplen Elementen (ein Sessel, eine Papptür, eine nackte Glühbirne, leichte Vorhänge) wechselndes Ambiente herstellen. Wesentlich bleibt in dieser Ausstellung des Theaters als Theater (keinen Moment stellt sich eine immersive Identifikation ein, die Schauspieler bleiben als solche erkennbar) die Vorstellungskraft der Zuschauer. Und der wird in dieser komplizierten Intrigenhandlung einiges abverlangt. Zum Glück unterstützt die Musik diesen Vorgang so einzigartig; noch in feinsten Nuancen zeigt sie emotionale Ambivalenzen, aber auch Ironie und Verstellung – und selbstverständlich echtes Gefühl, denn bei aller Posse zeichnet die Oper sensible und auch verletzliche Menschen.
Den letztlich nicht so ganz unernsten Punkt, dass die Handlung sich ja um einen sexuell motivierten Machtmissbrauch durch den Grafen Almaviva dreht (ausgezeichnet interpretiert von Grga Peroš), stellt Goritzki zugunsten der Komödie mit anzüglichem Unterton zurück. Wer dabei als eher alberne Figur ein bisschen ins Hintertreffen gerät, ist der von Frauen und Männern gleichermaßen begehrte Cherubino, eigentlich eine Art Verkörperung des sexuellen Begehrens selbst und damit der heimlichen Triebkraft der Handlung. Marie Seidler verkörperte diese berühmte Hosenrolle mal mit atemloser Ratlosigkeit in „Non so più“, dann mit einer wunderbaren stimmlichen Zärtlichkeit, die allen Klamauk konterkarierte, in „Voi, che sapete“. Hervorragend besetzt war auch das Hauptrollenpärchen. Stimmlich und schauspielerisch eine Freude war der Figaro von Alexander Hajek. Der kanadische Sänger, früheres Ensemblemitglied an der Dresdner Semperoper, war in Gießen gerade in der letzten Spielzeit schon in „Don Giovanni“ zu hören gewesen. (Im Programmheft wurde er versehentlich noch als Leporello geführt, Francesca Lombardi Mazzulli passend als Donna Elvira – die schönsten Mozart-Opern sind da der Dramaturgie ein bisschen ineinander geraten.) Sein Bariton ist elegant, variabel und niemals angestrengt, sein Spott bei der Verabschiedung Cherubinos zum Militär („Non più andrai“) von äußerster Kultiviertheit – dies in einem vielleicht absichtlichen Kontrast zur derben Inszenierung. Eine schöne Pointe dabei: Zur Schlusszeile („alla gloria militar“) sinkt ein Trauerkranz auf den jungen Offizier nieder.
Hajeks kongeniale Partnerin war Naroa Intxausti als Susanna – auch sie eine ideale Besetzung. Was für ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen (und zuzuhören), wie sie aus akuter Bedrohung heraus aufs Raffinierteste (und nicht immer rücksichtsvoll) ihr Verstellungsspiel einfädelt – diese eindeutige Stellungnahme Mozarts (und Da Pontes) für die Cleverness der Frauen zeigt sich auch in zahlreichen großartigen musikalischen Momenten, nicht zuletzt in den Ensembles. Intxausti singt verführerisch klar; bis zuletzt bleibt (absichtlich) offen, wo sie sich musikalisch geschickt verstellt und wo sie echtes Gefühl singt – wem gilt die Liebeserklärung in der Arie „Deh, vieni“ denn nun wirklich?
Auch alle anderen Rollen waren gut besetzt, da gab es kaum Abstriche. Heidrun Kordes gab eine makellose Marcellina. Lombardi Mazzulli als Gräfin sang arg direkt, Bartolo (Tomi Wendt) ist absichtlich überzeichnet dargestellt, seine Musik darf sogar buchstäblich ins Chaos abrutschen (unnötigerweise, denn die Musik enthält im Original schon genug Witz). Für alle Darsteller gab es immer wieder verdienten Szenenapplaus, auch für den Chor, der in dieser Oper nicht die Hauptrolle spielt, aber sehr gelungene Auftritte hatte, oder für die kleinen Partien etwa des Gärtners Antonio (wunderbar betrunken: Kyung Jae Moon), Don Curzios (stotternd: Kornel Maciejowski) sowie Barbarinas (Christin Kullmann) und Basilios (Riccardo Romeo).
Das letzte Wort hatte übrigens der Gärtner, dessen Sonnenblume abschließend eindeutig Stellung bezieht.
Karsten Mackensen, 24.12.2018, Gießener Anzeiger