Mozart heißt der Star des Abends. Ein anderer will erst noch Star werden: Sopranist Samuel Mariño. Generalmusikdirektor Michael Hofstetter feiert mit beiden im Stadttheater seine Rückkehr ans Pult.
Ein Mozartabend nur mit Mozart. Wo gibt’s denn so was noch? Im Stadttheater. Beim zweiten Sinfoniekonzert der Spielzeit mit dem wiedergenesenen Generalmusikdirektor Michael Hofstetter am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen. »Zwischen Himmel und Erde« überschreibt er das Programm in der Presseankündigung. Bis hinab in die Hölle geht es also nicht. Tragik und Dramatik, gewiss, aber an der Hölle hatte Wolfgang Amadeus Mozart wenig Interesse. Ein Klassiker aus dem Lehrbuch eben. Folglich klingt der Abend schon auf dem Papier nach Guter-Laune-Musik, schwelgerischen Melodien und konzertanter Kurzweil.
Dafür sorgt am Dienstag auch der Solist: Sopranist Samuel Mariño, zum ersten Mal in Gießen zu Gast. Er spielt nicht wie die meisten Countertenöre in der Mezzosopran-Liga. Der junge Mann, Jahrgang 1993, will hoch hinaus und versucht sich an glockenklaren Tönen, die ihm teils engelsgleich gelingen. Am Ende unzähliger Kadenzen gewährt das begeisterte ausverkaufte Große Haus allen Beteiligten minutenlang Standing Ovations. Nach den Tumulten in den vergangenen Monaten um seine Person nickt Hofstetter anerkennend und spendet Solist und Musikern seinerseits Applaus.
Den Auftakt bildet der leise Orchester- »Marsch der Priester« aus der »Zauberflöte«. Danach hat Mariño mit »Et incarnatus est« aus der großen c-Moll-Messe seine Mühe. Die Atemtechnik zeigt Mängel, die Koloraturen wirken hart. Lampenfieber? Bei der Konzertarie »Ah, lo previdi«, dem zweiten Auftritt Mariños vor der Pause, singt der Mann aus Venezuela wie ausgewechselt: intensiv, mit klaren Verzierungen, beeindruckender Höhe und beachtlicher Intensität. Die Arien »Deh, per questo istante solo« aus der Oper »La clemenza di Tito« und »L’amerò, sarò costante« aus der Serenata »Il re pastore« schließen nach der Pause nahtlos an. Das häufig gespielte Jugendwerk Mozarts, die Kastraten-Motette »Exsultate, Jubilate« des 16-jährigen Wunderknaben, geht in Mariños Version unter die Haut. Das Geheimnis: Die ausgefeilten Kadenzen hat der vor zwei Jahren verstorbene Nikolaus Harnoncourt für die von ihm verehrte Barbara Bonney beigesteuert, die ihrerseits Lehrerin von Mariño ist. Als geschmeidige Zugabe interpretiert der Sopranist ein Stück für eine Hosenrolle, die ja sonst den Frauen vorbehalten bleibt: die Arie für Mezzosopran »Voi che sapete che cosa è amor« aus der Oper »Die Hochzeit des Figaro«, mit der das Stadttheater im Dezember nach »Cosi fan tutte« und »Don Giovanni« seinen Da-Ponte-Zyklus beschließt.
Unter Hofstetters Dirigat präsentiert das Orchester den Mozart flott, stimulierend und, wo nötig, sensitiv. Die Pariser Sinfonie mit ihrem »Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald«-Motiv im zweiten Satz und die Ouvertüre aus »La clemenza di Tito« klingen nach geblümtem Tapetenmuster, ehe der Hit des Abends, die Ouvertüre aus »Die Hochzeit des Figaro«, runtergeht wie Öl.
Manfred Merz, 04.10.2018, Gießener Allgemeine Zeitung