Engelbert Humperdincks Märchendrama „Königskinder“ als konzertantes Musikereignis mit hochkarätigen Solisten im Stadttheater
Engelbert Humperdincks Melodram „Königskinder“ stand am Sonntagabend im Stadttheater auf dem Programm. Die Premiere der von Generalmusikdirektor Michael Hofstetter dirigierten konzertanten Aufführung wurde zu einem geglückten Experiment – auch dank eines Besetzungscoups. Gleichwohl hat sich das Stadttheater eine Chance vergeben.
Von seinem Vorbild Richard Wagner nimmt Engelbert Humperdinck hörbar Abschied, und das gleich in der ersten Szene seines Melodrams, wenn ein in feinsten Farben zart gesponnenes Waldvogel-Idyll den atmosphärischen Hintergrund für einen Dialog von Hexe und Gänsemagd bildet, der in einem zur Zeit der Uraufführung (1897) gänzlich neuartigen Stil des Sprechgesangs gestaltet ist – halb Deklamation, halb Gesang. Mit diesem Konzept suchte der Komponist nach einem Ausweg aus einer veritablen Opernkrise, in die sich das Bayreuth-Epigonentum mit seiner geringen künstlerischen Innovationskraft hinein bewegt hatte. Humperdincks Stück fiel seinerzeit krachend durch.
Der Gießener Generalmusikdirektor Michael Hofstetter hat nun das Wagnis begangen, sich dieser ersten Fassung des später zur Oper umgearbeiteten Stoffes auf ein Märchendrama von Elsa Bernstein-Porges wieder anzunehmen. Der Erfolg bei der Premiere im Stadttheater am Sonntag gibt ihm in vieler Hinsicht Recht. Die Intensität der musikalisch-sprachlichen Ausdrucksgebärden war in den gelungensten Momenten des zweieinhalbstündigen Abends frappierend. Sprache und Sprechen wird in diesem Konzept selbst zu einer hochgradig gestischen, körperlich erfahrbaren Musik. Hofstetter versammelte für sein Projekt ein sorgfältig ausgewähltes Ensemble; durch praktisch völlige Tilgung aller Sprechrollen genügten vier Personen (die dann vereinzelt durch Chor und Chorsolisten ergänzt wurden).
Obwohl sie nicht die Hauptrolle spielt, darf die Figur der Hexe herausgestellt werden. Denn Hofstetter hat mit deren Besetzung einen Coup gelandet: Anja Silja ist eine Grande Dame der Oper, sie hat in den vergangenen gut 50 Jahren Bühnengeschichte geschrieben. Nicht zuletzt sind ihr unverändert gültige Einspielungen zu verdanken, etwa der „Pierrot Lunaire“ von Arnold Schönberg. Und Schönberg übernahm dafür tatsächlich direkt von Humperdinck das Verfahren des „gebundenen Melodrams“, bis hin zur Notationsweise. Es handelt sich um eine auf die Moderne vorausweisende Form der Musik – möglicherweise war der Misserfolg der Uraufführung auch auf das Unvermögen der Ausführenden zurückzuführen, den geforderten Mittelweg zwischen Singen und Sprechen umzusetzen.
Siljas Interpretation blieb ganz auf der Seite der sprachlichen Deklamation – mit großartiger Wirkung. Die expressive und doch unpathetische Rauheit ihrer Rezitation führte schon in die Nähe Brecht’schen Theaters.
Das mag sich Humperdinck anders gedacht haben, ergänzte aber aufs Beste die individuellen Zugänge der anderen Solisten. Marie Seidler als Gänsemagd gestaltete ihre Partie oft stärker gesanglich, gleichsam weniger „realistisch“ – mit größtem Effekt gerade auch in den berührenden Momenten erst naiver Lebensfreude, dann stillen Abschieds. Ihr zur Seite stand als Königssohn der hervorragend agierende Daniel Johannsen. Das war eine Meisterleistung an aufmerksam-sensibler, im besten Sinne theatraler Stimmgestaltung. Und schließlich Gregor Dalal als Spielmann: von zwingender Kraft seine prachtvolle Stimme. Auch ihm gelang die Balance zwischen expressivem Sprechgestus und Gesanglichem (der Wechsel war deutlich zu hören in den Einlageliedern) in eindrücklichster Weise.
Das Philharmonische Orchester Gießen spielt keine geringe Rolle bei der ganzen Sache: Hoch illustrativ, mitunter lautmalend, fügt es der Handlung eine eigene Spur hinzu. Die Musiker waren hervorragend aufgelegt und zauberten Bilder und Stimmungen von größter Farbigkeit und Intensität.
Nur eines fehlte, das muss doch gesagt werden – es handelt sich ja eigentlich um Musiktheater. Mit der Entscheidung zu radikaler Kürzung und konzertanter Aufführung wurde das Stück um Essentielles beschnitten, nämlich Szene und Aktion. Von einer „Urfassung“ kann also keine Rede sein. Der originale Theaterzettel von 1897 verzeichnet 17 Darstellererinnen und Darsteller! Vier Fünftel des Stücks waren Sprechtheater.
Als Utopie einer gesellschaftlichen Erneuerung durch die „Menschenorgel“ der jungen Generation angelegt, war das vermeintliche bloße Märchen von sozialer Kritik geprägt: Die „königsechten“ Kinder scheitern an einer resignativen, ignoranten Gesellschaft. Ein Regisseur könnte daraus viel machen – diese Chance hat sich das Stadttheater vergeben. Gleichwohl: Auch ohne Szene schon zeigt die melodramatische Musik Humperdincks ihre enorme Plastizität und ihre Fähigkeit zu innigster Anrührung. Das Experiment ist auf hohem Niveau geglückt.
Karsten Mackensen, 12.02.2019, Gießener Anzeiger