Junger Geiger Emmanuel Tjeknavorian glänzt mit seinem Paradestück beim gemeinsamen Gastspiel mit dem HR-Sinfonieorchester im Stadttheater
Im Mittelpunkt des Auftritts des HR-Sinfonieorchesters am Samstagabend im Gießener Stadttheater stand ein junger Solist, dessen frappierende musikalische Leistungen gerade eine Weltkarriere eröffnen. Der Geiger Emmanuel Tjeknavorian führte mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius sein Paradestück auf, für das er beim Internationalen Sibeliuswettbewerb 2015 mit dem Preis für die beste Interpretation ausgezeichnet worden ist. Und die hohen Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Gemeinsam – und das heißt in höchstem Grade einheitlich und auf Augenhöhe gleichberechtigt – mit dem Orchester unter Leitung von Pablo González entstand vor den Ohren der gebannt lauschenden Zuhörer eine bis in die Details stimmige Formung dieser herausragenden Komposition.
Nun ist das Sibelius-Konzert eines der am häufigsten gespielten Werke der Literatur für Geige und Orchester überhaupt – keine geringe Herausforderung. Tjeknavorian, Jahrgang 1995 und Schüler von Gerhard Schulz in Wien, wählt eine erfreulich schlackenfreie Herangehensweise. Äußerlich ist sie durch eine atemberaubend klare Diktion gekennzeichnet – da gibt es keinen Ton, der auch nur im Geringsten vernachlässigt wäre, noch die virtuosesten Läufe oder Doppelgriffe sind luzide, kontrolliert, durchhörbar.
Ohne in Extreme zu verfallen, balanciert der junge Geiger zwischen fahler, gebremster Expressivität – etwa gleich zu Beginn – und prächtiger Breite des Pinsels, wie sie die Cinemascope-Passagen des ersten Satzes sehr wohl hergeben. Aber er übertreibt eben nicht: Weder stellt er einseitig die folkloristischen Elemente heraus, noch versinkt er in Pathos-Versuchungen der Belcanto-Kantilenen. Was ihm gelingt, ist die Gestaltung von ungeheuer weit gespannten musikalischen Bögen – ganze Partiturseiten entlang baut er sie auf, in zurückhaltender, sich langsam steigernder, immens zärtlicher Intensität im zweiten Satz beispielsweise, ohne jeden Bruch, bis zu den vollendet organischen Weiterführungen im Orchester.
Qualitäten des Orchesters
Apropos: Selbst in der problematischen Akustik des Stadttheaters vermochte González die Qualitäten dieses Orchesters zum Tragen zu bringen. Sein Dirigat ist hoch anschaulich, kleinste Akzente der Hand steuern Einwürfe, suggestive Gesten mitunter auch des ganzen Körpers übertragen sich unmittelbar auf Klanggebung und musikalischen Charakter. Sowohl mit dem Eröffnungsstück, dem „Carnaval Romain“ von Hector Berlioz, als auch der Sinfonie „Die vier Temperamente“ von Carl Nielsen in der zweiten Programmhälfte, zeigte das Orchester die Kunst des Unerwarteten, der schroffen Gegensätze und der klangfarblichen Variation, wie sie diese äußerst lebendigen Kompositionen auszeichnen.
Obwohl gerade das Holz sich tendenziell im Bühnenhimmel zu verlieren droht, war etwa das Duett von Englischhorn und Bratschen im „Carnaval“ samtig und ausgewogen. Nielsen seinerseits hat sich für die Sätze der Charaktersinfonie von den klassischen vier Temperamenten inspirieren lassen, also Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker und Sanguiniker. Das war schon eine Leistung, wie es González schafft, die Folge der teils schroff kon-trastierenden Elemente – gerade im ersten Satz adäquat zum Charakter von größter Unvorhersehbarkeit – doch zu einer Einheit zusammenzubinden.
Die „störenden“ Blechbläsereinwürfe in die Fugenordnung blieben organisch, die zäh und phlegmatisch tröpfelnden Fagotte fügten sich in die eigenartige Unruhe des zweiten Satzes. Der dritte geriet mit seinen großen emotionalen Steigerungen wie eine Hommage an Mahler, aber im dissonanten Blechbläsersatz zum Angstvollen, ja zur Furcht changierend. Im letzten Satz gab es gar noch einmal Karnevaleskes – da schloss sich ein Kreis zum erstaunlich vergleichbaren Berlioz.
Karsten Mackensen, 23.04.2019, Gießener Anzeiger