Die Stadt mal anders: 300 Schüler treffen auf 82 Musiker. Das Stück »Surrogate Cities« von Heiner Goebbels wird in der Osthalle bejubelt.
Der Setzkasten, früher ein Stück Wohnzimmerkultur, hat ordnende Funktion. Er teilt gerecht, reiht aneinander, trennt aber auch mit Mut zur Lücke. Mitunter gelingt seinem Arrangeur ein individuelles Kunstobjekt. Tanzdirektor Tarek Assam untermalt in diesem Sinne die Orchestersuite »Surrogate Cities« von Heiner Goebbels in der Osthalle szenisch und unterteilt dazu das Spielfeld, das als Bühne dient, in ein 28 Felder umspannendes Schachbrettmuster. Das noch nicht da gewesene an diesem Vorhaben: 300 Schüler erfüllen die Flächen mit Leben. Dazu spielt das Philharmonische Orchester Gießen auf. Die theatralische Lichtregie tut ihr Übriges. Ergebnis ist ein buntes Spektakel, das gegenüber dem konventionellen Setzkasten einen großen Vorzug genießt: Es wird von Musik zusammengehalten.
Treibender Sound
Ein treibender Sound reibt sich urban am Mauerwerk der Gefühle. Der musikalische Flaneur erspäht Straßenschluchten, Hochhäuser, Hinterhöfe, hört Autohupen tröten, sieht Asphalt dampfen. »Surrogate Cities« (Ersatzstädte) für großes Orchester, Stimme, Erzähler, Mezzosopran und Sampler hat das Stadttheater in Zusammenarbeit mit der Gesamtschule Ost, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert (was auch für die Osthalle gilt), und ihren Schülern aus den Jahrgängen 7, 9 und 12 am Samstagabend szenisch-choreografisch aufgeführt.
Bisher nur in Welt-Metropolen
Bis heute ist Goebbels’ Komposition von 1994, das vielschichtige Werk des im Sommer emeritierten JLU-Professors und ehemaligen Ruhrtriennale-Chefs, weltweit ausschließlich in Metropolen wie Taipeh, New York, London und Berlin aufgeführt worden – nun darf Gießen zeigen, was es kann. Das impulsive Stück, von den Verantwortlichen als »höchst attraktiver Großstadtlärm« angepriesen, schreitet in 90 Minuten imaginäre (Sound-) Blocks ab und legt kompositorische Bauabschnitte frei. Halteverbotsschilder spart Goebbels aus, er setzt stattdessen auf die Architektur des Orchesters. Reichlich Schlagwerk, viel Holz, massive Streicher – 82 elektronisch verstärkte Musiker unter dem Dirigat von Kapellmeister Martin Spahr sitzen in der Mitte der Halle als zentrales Sound-Organ.
Drum herum wuseln die Schüler, zunächst nacheinander in den Klassenverbänden und in ihren Quadranten. Die Jugendlichen stehen am Beginn trotz ihrer uniformen weißen T-Shirts und dunklen Hosen als Individuen da, die im Laufe des Konzerts ihr Menschsein ordnen und zu einer schweigsamen, aber munteren Gesellschaft formen, die ihren Weg gemeinsam geht. Assam hat fast ein Dutzend Choreografen mit der Ausarbeitung beschäftigt. Raum für Interpretationen öffnet sich. Oder wie es ein Schüler sagt: »Wir blitzen und sind Soldaten – deshalb dürfen wir auch nicht reden.«
Kleinstadt auf dem Schachbrett
Im Verlauf des Konzerts wird aus weißen Pappkartons eine Art Kleinstadt auf dem Schachbrett aufgebaut (Ausstattung: Lukas Noll, Thomas Döll). Die Breakdancer Abtin Afshar Ghotlie, Anton Wagner und Federico Aledda erhalten als rotierende »Störenfriede« mehrfach Szenenapplaus. Auch Mitglieder des Jugendclubs des Stadttheaters mischen mit. Obwohl an diesem Abend keine Rebounds und Dunkings der 46ers zu sehen sind und auch keine Sprungwürfe der Hüttenberger Handballer, ist die Halle prächtig besetzt. 1400 Zuschauer säumen die Süd- und Nordtribüne und vermitteln Heimspielatmosphäre. Zum 20-minütigen Finale unter buntem Licht finden sich fast 400 Mitwirkende auf der Spielfläche ein.
»Surrogate Cities« lebt von seinem Rhythmus. Goebbels gönnt besonders den Streichern Partien, die sich vehement spielen lassen, ohne zu zerfransen, wie das bei zeitgenössischer Musik oft der Fall ist. Spahr arbeitet mit seinem durch Gastmusiker aufgestockten Philharmonischen Orchester die vielen Reibeklänge und Taktüberlagerungen sorgsam heraus. Die Musik legt Emotionen frei und Assoziationen nahe. Die Klangregie verantwortet Norbert Ommer.
Die rezitierten und gesungenen Texte stammen von Heiner Müller, Franz Kafka, Hugo Hamilton und Paul Auster. Es geht ums Alleinsein, Versagen, Überleben. Die Grundidee basiert auf Hamiltons Roman »Surrogate City« über das Schicksal eines irischen Liebespaares im West-Berlin der 1970er Jahre.
Die Solisten sind am Abend das Tüpfelchen auf dem i. US-Vokalakrobat David Moss weckt mit seiner flirrenden Stimmbandkunst Neugier, US-Sängerin Jocelyn B. Smith sorgt für große Augen. Die beiden haben bislang alle Aufführungen von »Surrogate Cities« weltweit gesungen. Stadttheater-Schauspieler Roman Kurtz bildet als Sprecher den ruhenden Pol am Rande des Abgrunds. Langer intensiver Applaus vom Publikum für alle Beteiligten.
Die Energie
Die Erfahrungen von Heiner Goebbels in Sachen Jazz und Rock und mit zeitgenössischer Musik kommen »Surrogate Cities« zugute. 18 Stücke ergeben 18 Sounds und Collagen, die barocke Tanzsuite dient augenzwinkernd als Kulisse. Soul, Blues und neoimpressionistische Einsprengsel gehören ebenso zu diesem Klangkosmos wie der Sampler. Dieser Elektrosetzkasten mit seinen aufgenommenen Klängen und Geräuschen ist ein Spielzeug für Erwachsene, das es zu akademischen Weihen gebracht hat. Sein Sound lässt sich manuell variieren, was Verfremdungen hervorruft und Neuschöpfungen nicht im Weg steht. Der musikalische Eiweiß-Shake in der Sporthalle verfügt nicht zuletzt dank seiner elektronischen Verstärkung über Saft und Kraft, oder eben über – wie es Captain Jean-Luc Picard an Bord des Raumschiffes Enterprise sagen würde – Energie.
Manfred Merz, 23.09.2018, Gießener Allgemeine Zeitung