„Starthilfe für 2019“: Neujahrskonzert im Stadttheater mit europäisch-amerikanischem Programm und politischer Botschaft
Schöne Musik und Politik schließen einander nicht aus. Ganz im Gegenteil – wie könnten auch Kultur und Gesellschaft als unverbunden gedacht werden in einem Haus, das zu Recht stolz ist auf sein Motto: „Ein Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns.“ Nicht zum Museum soll hier Kunst erstarren. Vielmehr stehen Kultur und ihre institutionelle Heimat, das Theater, emblematisch und auch ganz konkret für eine bestimmte Art des bürgerlichen Engagements. Dieses Engagement muss in unserer modernen Gesellschaft, so lautete die Botschaft des Neujahrskonzerts des Stadttheaters, als essentiell demokratisch verstanden werden. Cathérine Miville, die Intendantin des Hauses, unterstrich dieses Anliegen in einer kurzen Ansprache, im Namen aller am Abend beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Demokratie bedeute nicht zuletzt Vielfalt der Meinungen – es dürfe nicht dazu kommen, dass sich einfach die Lautesten durchsetzen.
Beethovens Neunte
Und wo kommt dabei die Musik ins Spiel? Wie immer, war die Programmfolge des Neujahrskonzerts eine Überraschung. Die Wahl fiel in diesem Jahr auf Musik, die im Kern politisch, die gesellschaftlich-demokratisch engagiert ist. Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie bildete den nicht gänzlich unkonventionellen, aber aus mehreren Gründen höchst stimmigen Schluss. Verbunden wurde sie mit zwei Stücken des US-amerikanischen Komponisten Aaron Copland (1900 – 1990). Alleine durch die Verwendung von Texten – einmal von Friedrich Schiller, einmal von Abraham Lincoln – erfahren die Kompositionen konkrete Bedeutungszuschreibungen, die einander dann komplementieren, wenn die Musik in einem Konzert zusammengespannt wird. Programmatisch ergibt sich so eine Verbundenheit US-amerikanischer und europäischer, ja sogar deutscher Kultur. Europäischer Humanismus, gespeist aus der Erfahrung der Französischen Revolution, amalgamiert mit amerikanischem, demokratischem Patriotismus.
Die imposante Eröffnung mit Pauken und Trompeten machte Coplands wahrscheinlich bekanntestes Stück, die „Fanfare for the common man“ für Blechbläser und Schlagwerk. Anlass der Komposition war der Kriegseintritt der USA 1942, der Titel ist inspiriert durch ein Wort des damaligen Vizepräsidenten Henry A. Wallace, der seine Epoche zum beginnenden Zeitalter des „einfachen Mannes“ erklärt hatte. Bevor der Gießener Schauspieler Roman Kurtz als Sprecher in Coplands Melodram „Lincoln Portrait“ (ebenfalls von 1942) agierte, gab er eine „Starthilfe ins Jahr 2019“, die in beeindruckender Weise die Musik des Abends politisch kontextualisierte. Er betonte die gesellschaftliche Dimension des Kulturschaffens mit konkretem Blick auf Schillers Idee der Schaubühne als einem Ort der Bildung zu sozialer Verantwortung. Von hier spannte er einen Bogen zu den Zitaten von Abraham Lincoln, die Copland in seiner Komposition vertonte, unter anderem aus seiner wohl berühmtesten Rede, der „Gettysburg Address“ von 1863, die danach fragt, unter welchen Bedingungen eine Demokratie funktionieren kann.
Auf die hochgradige Virulenz dieser Frage auch und gerade für unsere heutige Gesellschaft wies Kurtz durch ausführliche Zitate aus zwei wichtigen Ansprachen bundesdeutscher Politiker hin: Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 und Frank-Walter Steinmeiers Rede bei der Gedenkstunde zum 9. November 2018. Brandts Beobachtung, dass die Ordnung eines gesellschaftlichen Systems vor allem der aktiven Mitverantwortung bedürfe, ist sicherlich von ungebrochener Gültigkeit.
Ergänzt wurde Kurtz’ „Starthilfe“ durch den Auftritt von fünf jungen Damen des zum Haus gehörenden Jugendclubs „Spieltrieb“, die – gekleidet in fantasievolle, farbenfrohe Kostüme und solcherart Figurinen des Theaters als Theater selbst repräsentierend – eine Collage aus Grundgesetztexten vortrugen. Die zuerst diachron gesprochenen Fragmente – vor allem zum Prinzip der Gleichheit, zu Pressefreiheit und Kulturfreiheit – verdichteten sich zu einem Konzert, einem polyphonen Wettstreit der Stimmen, bevor sie ins Unisono der Menschenwürde mündeten.
Das passte ausgezeichnet zu Beethovens „Freuden“-Sinfonie. Roman Kurtz wies auf die Bedeutung des Stückes gerade im Jahr 2019 hin, in dem die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Seit 1985 dient eine simplifizierte, instrumentale Bearbeitung des berühmten Themas aus dem Schlusssatz als Europahymne. Sie setzt auf die einfache Botschaft (darin nicht unähnlich den Kompositionen Coplands). Weniger massentauglich war dagegen schon immer die originale Sinfonie Beethovens, wie sie im Konzert erklang. Selbst der streckenweise hoch komplexe Schlussjubel erlaubt keineswegs immer das Mitsingen so ohne Weiteres. Und bis endlich das Oden-Thema erklingt, vergehen beinahe 40 anspruchsvolle Minuten.
Beethoven war kein Komponist für einfache Lösungen. Und deshalb korrespondiert seiner Komposition vielleicht ein wichtiges Prinzip moderner Demokratie: Einfache Lösungen gibt es nicht. Gerade das ist der Grund, warum die Wahl dieses Stückes für das Neujahrskonzert von größter Konsequenz war – abgesehen davon, dass es eine beliebte Komposition ist, die mit gutem Grund ihren Stammplatz im Repertoire einnimmt. Gerade der letzte Satz ist übrigens auch musikalisch besonders gelungen. Solisten und Chor waren ausgezeichnet disponiert. Haus- und Extrachor wurden ergänzt durch die Frankfurter Singakademie, deren Leiter der Dirigent des Abends, der stellvertretende GMD Jan Hoffmann, ja ebenfalls ist. Als Solisten waren zu hören Annika Gerhards (Sopran), Stefanie Schaefer (Mezzosopran), Michael Siemon (Tenor) und Simon Bailey (Bass).
Tomi Wendt als Stehgeiger
Im Anschluss an das Konzert gab es noch einen vergnüglichen Ausklang mit Wiener Kaffeehaus-Musik im Foyer – da konnte man den Gießener Bariton Tomi Wendt einmal höchst charmant als Stehgeiger hören (an der Seite von Torsten Oehler und Roland Schmiedel).
Karsten Mackensen, 03.01.2019, Gießener Anzeiger