Doppelpremiere zweier Raritäten: Im Stadttheater treffen zum Auftakt der Musiktheaterspielzeit A-cappella-Perlen auf die Oper »Mala Vita«. Regisseur Wolfgang Hofmann hat dafür das richtige Händchen.
Der Spagat gehört in der Kunst, vom zeitgenössischen Tanz einmal abgesehen, zu den Randerscheinungen. Das Verletzungsrisiko ist zu hoch. So verhält es sich auch bei der musikalischen Dehnübung, zwei Epochen zu vereinen. Der Mix birgt die Gefahr, eine undurchsichtige Gemengelage zu produzieren. Integration wird nötig, wenn melodienseelige Romantik des 19. Jahrhunderts auf distinguierte Renaissance um 1590 trifft. Gelingt die Assemblage, entsteht eine neue Multikultur, auch wenn im konkreten Fall ausschließlich Italiener involviert sind.
Da ist zum einen Umberto Giordanos Oper »Mala Vita« (das schlechte Leben), die dem Abend im Stadttheater den Namen spendiert mit ihrem Realismus, der sich nicht mit Adligen oder Götterfiguren auseinandersetzt, sondern die bürgerliche Gesellschaft skizziert, in diesem Fall jene von Neapel. Dieser Verismo genannte Stil klingt nett bis leidenschaftlich dank homofoner Struktur, flotter Tempi und seiner freundlichen Portion Selbstüberschätzung. Und da sind zum andern als Kontrapunkt sieben Renaissance-Gesänge des Carlo Gesualdo. Seine A-cappella-Perlen stecken voller Reibeklänge und Tonartwechsel, sie wirken ernst, übersinnlich, melancholisch. Es liegt am Schicksal des Komponisten. Der adlige Gesualdo brachte aus Eifersucht seine Frau und deren Liebhaber um. Danach verzog er sich reumütig (und aus Angst vor der Rache der Hinterbliebenen), um als Tondichter zu wirken. Die Stile von Giordano und Gesualdo liegen im Klangkosmos Lichtjahre voneinander entfernt, sodass sich am Samstagabend bei der Eröffnung der Musiktheaterspielzeit alle wunderten, wie gut sich beides miteinander vermählen lässt – als Doppelpremiere zweier Raritäten.
Regisseur Wolfgang Hofmann gelingt dieser Coup. Er beweist in seiner Inszenierung Gespür und lässt das Gesualdo-Solistensextett in Shakespeare-Garderobe (Kostüme: Claudia Krull) als göttliche Instanz das Geschehen lenken. Die Gesualdo-Gesänge, die das Treiben auf der Bühne für den Moment einfrieren, sind von einer unter die Haut gehenden Intensität. Hofmann hat damit die »Mala Vita«-Handlung, die er im Italien der Sophia Loren und des Marcello Mastroianni in den 1960er Jahren ansiedelt, zu einem neuen Werk stilisiert. Und er ist für eine Überraschung gut. Wenn Amalia (hervorragend: Vero Miller) kurz vor Schluss ihren Vito (durchdringend: Denis Yilmaz) verführt und ihm mit einer einzigen Emanzipationsbewegung sämtliche Knöpfe vom Oberhemd reißt, stellen sich die sechs Gesualdi eilig vor das nun lüsterne Paar und schirmen es vor den Blicken des Publikums ab, offenbar selbst überrascht von dieser erotischen Wendung. Ansonsten lassen die Gesualdi durch Handauflegen die Sänger Sorgen äußern oder Arien schmettern. Zwischendurch sitzen die sechs auf Kinostühlen und betrachten genüsslich Zigarette rauchend das von ihnen initiierte Spektakel.
Lars Peter hat dazu eine sakral wirkende, jungfräulich weiße Rundbühne mit Altar in den Bühnenkasten gestellt und fürs Volk (stimmgewaltig: Chor und Extrachor des Hauses) Stühle drum herum drapiert. Im Hintergrund ist ein großer Prospekt montiert, der den vom Kreuze abgeschnittenen Jesus mit Maria zeigt.
Die Idee für den Epochen-Mix geht auf das Konto des erkrankten Generalmusikdirektors Michael Hofstetter. Da der praktisch nie gezeigte Giordano zwar über drei Akte, aber nur 70 Minuten Spieldauer verfügt, musste eine Ergänzung her. Pietro Mascagnis Kurzoper »Cavalleria Rusticana« dazuzumontieren, verbot sich – das kennt man zur Genüge. Hofstetter setzte wagemutig auf Gesualdo.
Chordirektor Jan Hoffmann hat die von Hofmann mit ausgewählten Madrigale und Responsorien einstudiert und dirigiert das Renaissance-Sextett aus dem Off. Im Graben steht der Italiener Eraldo Salmieri. Er war schon mehrfach zu Gast, wird von den Musikern geschätzt. Salmieri verlangt dem Philharmonischen Orchester Gießen einen maskulinen Sound ab, setzt auf hohes Tempo und dampfende Lautstärke, zieht aber auch ein Piano aus dem Ärmel, das ins Gefüge passt. Sein Dirigat harmoniert mit der Regie. Man wird wohl noch öfter von ihm hören.
Das Gesualdo-Ensemble mit Naroa Intxausti, Ayano Matsui, Shawn Mlynek, Christopher Meisemann, Christian Richter und Tomi Wendt ist ein Garant des Erfolgs. Auch die andern Sänger zeigen Klasse. Sopranistin Angela Davis verfügt als Dirne Cristina über ein leuchtendes Timbre. Marie Seidler gibt eine vorzügliche Nunzia, Florian Spiess einen unterbeschäftigten Marco und Grga Peros einen bestens disponierten Bordellbesitzer mit schnalzendem Butterfly-Messer. Kräftiger Applaus mit drei Vorhängen vom ausverkauften Haus für alle Beteiligten.
Manfred Merz, 17.09.2018, Gießener Allgemeine Zeitung