Saisonauftakt für Philharmonisches Orchester mit Programm zwischen Bach und Moderne
Das Philharmonische Orchester des Stadttheaters hat am Dienstagabend die Konzertsaison mit einer höchst ungewöhnlichen Programmfolge eröffnet. Sie bot die Bühne für zwei Solisten, die ihre Musik zuerst im Rahmen kleinster, kammermusikalischer Besetzung und dann aus sinfonischer Klangfülle heraus zur Entfaltung brachten.
Den Auftakt machte Johann Sebastian Bachs frühe Trauerkantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“. Das insgesamt stimmlich nicht ganz homogene Vokalquartett nutzte die äußerst sparsame Besetzung (zwei Blockflöten und zwei Gamben plus Continuo) nur teilweise als Chance zur nuancierten stimmlichen Gestaltung der Affekte. Der mitwirkende Münchener Bass Thomas Stimmel, am Gießener Haus bereits aus zwei Produktionen bekannt, war Solist dann auch beim musikalischen Höhepunkt des Abends: die sehr selten zu hörenden „Sinfonischen Gesänge“ op. 20 von Alexander Zemlinsky aus dem Jahre 1929. Zemlinsky vertonte Übersetzungen aus einer Anthologie afroamerikanischer Dichtungen mit dem Titel „Africa Sings“.
Als Nachfahre katholisch-jüdisch-muslimischer (ja, das geht) Eltern, der dem Wiener Antisemitismus durch Übertritt zum Protestantismus zu entgehen gehofft hatte, war Zemlinsky für die Thematik, nämlich die Unterdrückung von Minderheiten, sensibilisiert. Ergreifend quälend, in symbiotischer Verschmelzung der Stimme mit den düsteren, tiefen Holzbläser-Klängen erhob sich die eröffnende Klage über Lynchjustiz „unten im Süden, in Dixieland“. Stimmel verstand es auch weiter, gesanglich die stilistische Vielfalt der Komposition zwischen expressionistischer Moderne, Exotismus und Spätromantik genau mitzuvollziehen, immer blieb er trotz der großen Besetzung wunderbar verständlich.
Barockspezialist am Pult
Am Pult stand übrigens, einspringend für den erkrankten GMD Michael Hofstetter, der argentinische Dirigent Rubén Dubrovsky. Das Publikum war natürlich gespannt, wie der Barockspezialist mit der Musik der Moderne umgeht – nun, zumindest möchte man sein Dirigat nicht temperamentvoll nennen. Insgesamt schienen Dirigent und Orchester nicht recht frei, klebten stattdessen an den Noten.
Das gilt leider auch für Ernest Blochs „Schelomo. Hebräische Rhapsodie“ für Solocello und Orchester. Die hervorragende britische Cellistin Natalie Clein spielte vielleicht deswegen mit vorsichtig gebremster Expressivität. Sie hatte – gänzlich ungewöhnlich – ihr vollendetes Musizieren bereits vor der Pause mit der ersten Solo-Suite von Bach unter Beweis stellen können (andere spielen das als Zugabe).
Ihre große rhapsodische Klage dann, eigentlich ein nicht enden wollender, hoch emotionaler Sprechgesang, war von größter Feinfühligkeit, immer kultiviert ausgespielt, aber eben wenig gewagt. Eine schöne Überraschung bot die Zugabe: Gemeinsam mit Dubrovsky, der sich rasch ein Cello lieh, musizierte sie das dritte der „Jüdischen Lieder“ von Bloch.
Karsten Mackensen, 30.08.2018, Gießener Anzeiger