Tarek Assams „Waves“ lässt keinen der Besucher unbeeindruckt zurück
Ein rundum stimulierendes und packendes Tanzerlebnis bot sich den Besuchern des „taT“ in Gießen am Freitagabend. Die Premiere von Tarek Assams „Waves“ mit der erregenden Videoinstallation von Lieve Vanderschaeve auf der exzentrischen Bühne von Michele Lorenzini ließ keinen Besucher unberührt zurück. Ein Erlebnis! „Waves“ widmet sich dem Thema Wellen im konkreten und übertragenen Sinne, „Energie, die eine sich räumlich ausbreitende Schwingung erzeugt“ heißt es zum besseren theoretischen Verständnis im Programm. Aber auch die Alltagserfahrung von Wasserwellen gehört dazu – irgendwie sehr vieles, erfährt man.
Das mit der sich ausbreitenden Schwingung ist ein wesentlicher Aspekt, den die herausragende Videokreation sogleich aufgreift. Michele Lorenzinis Bühne (auch Kostüme) wird von zwei weißen Stellwänden begrenzt, auf denen sich senkrechte weiße Elemente befinden, die an unregelmäßige Kühlrippen erinnern. In einheitlichen weißen Alltagsklamotten tanzen Caitlin-Rae Crook, Maria Adriana Dornio, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova, Yusuke Inoue, Sven Krautwurst und Bayarbaatar Narangerel. Schon bald belebt sich die Szenerie, indem Musik, Geräusche und Licht mit diesen Elementen und den Tänzern eine schlüssige Verbindung eingehen. Die Musik, meist eine Art perkussionsbetonte, oft tanzbar, dient dem Ensemble als individuelle Bewegungsgrundlage, obgleich sich alle sichtbar an ihr orientieren, zuweilen auch im Gleichklang. Oder eine Tänzerin gibt eine Anweisung: „Transform – activate“. Der Zuschauer erlebt einen ganzheitlichen Fluss sinnlicher Anregungen, wie sie selten sind. Lichtwellen fließen über die Bühne und die Körper verändern die Wandelemente, die sich zuweilen auch selbst erleuchten, lösen die Konturen der Tänzer auf. Diese Effekte sind zum einen sehr attraktiv: Muster verändern die Szene, im Hintergrund wandern auch mal computergrafische abstrakt belassene Figuren, und ein Bassschlag lässt alles zusammen erzittern (Dramaturgie: Johannes Bergmann). Die Tänzer, wie üblich hoch motiviert und ebenso ausdrucksvoll agierend, zeichnen häufig wellenhafte Figuren, spiegeln die gerade laufende Grafik wieder oder fügen minimale szenische Elemente hinzu; gelegentlich entstehen Momente großer Innigkeit. Sehenswert ist Magdalena Stoyanovas Soloszene; die Company insgesamt glänzt mit größter Verbindlichkeit und Differenziertheit des Ausdrucks, hier sind alle auch Darsteller. Auch Humor findet statt. Ein paar durchaus kluge Denksprüche wandern kurz über die Wände und schaffen, vielleicht unbeabsichtigt, ein Moment der Ironie, und ein paar szenische Elemente lassen die Tänzer als Sänger erscheinen. Und eine Wasserszenerie, in der ein grafisches Baby schwimmt, steht einfach auf dem Kopf. Die nicht endende Fülle der Einfälle bezieht letztlich den Betrachter in das Ganze mit ein, nicht selten geht der Beat ins Bein, und die fließende Allgegenwart der expressiven Elemente hebt alle Beschränkungen von Bühne, Hintergrund und Akteuren auf. Die Choreografie nutzt das höchst sinnfällig und fügt sich in dieses stimulierende Spektakel ratlos ein: einfach großartig, wunderschön und vor allem inhaltlich und formal stimmig wie selten. Enormer Beifall.
Heiner Schultz, 19.05.2018, Gießener Anzeiger