Komponist Heiner Goebbels über sein zentrales Werk „Surrogate Cities“, das am 22. September in der Gießener Osthalle zu erleben sein wird
Es ist eine ganz besondere Herausforderung, der sich das Stadttheater Gießen und mit ihm rund 250 Kinder und Jugendliche der Ostschule stellen: die gemeinsame Einstudierung der Orchestersuite „Surrogate Cities“ von Heiner Goebbels. 1994 in der Frankfurter Alten Oper uraufgeführt, wurde das Werk seitdem in zahlreichen Metropolen überall auf der Welt gespielt. Bevor es nun am 22. September in Gießen zu erleben sein wird, hat unsere Zeitung mit dem international erfolgreichen und seit vielen Jahren an der Uni Gießen lehrenden Komponisten und Theatermacher Heiner Goebbels über diese Arbeit, ihre Entstehung und Zielsetzung gesprochen.
Ihre Komposition „Surrogate Cities“, 1994 in der Frankfurter Alten Oper uraufgeführt, ist keine affirmative Bebilderung von Großstadtgefühlen. Alles ist abstrakter, die Herausarbeitung von Energie ist prägnant, die Haltung radikal kommentierend.
Abstrakter ja, weil es mir weder um ein konkretes Stadtbild geht, noch um meine eigene, subjektive Stadtgeschichte. Vielleicht ist „Surrogate Cities“ auch gar nicht kommentierend, sondern eher eine Konfrontation oder das Angebot, akustische, urbane Erfahrungen zu machen.
Ich hatte damals auch den Eindruck, dass Sie sich in diesem Stück an der Institution des Orchesters gerieben haben.
Ich hoffe, produktiv. Es gab ja damals einen doppelten Auftrag: einmal zum Stadtjubiläum 1200 Jahre Frankfurt, und zum anderen wurde die Junge Deutsche Philharmonie 20 Jahre alt. Diese beiden Organisationsformen Stadt und Orchester habe ich versucht, zusammen zu denken und dabei zu untersuchen, welches gemeinsame strukturelle Potential darin stecken könnte: Stadtteile, Orchesterbesetzungen, architektonische und kompositorische Bauweisen spielen eine Rolle bei der Gliederung.
Aber erst bei den Proben wurde für mich spürbar, wie viel diese beiden Strukturen miteinander zu tun hatten. Wir hatten den Luxus einer großzügigen und zunächst mal nach Instrumentengruppen getrennten Probenzeit in der Hochschule der Künste in Berlin. In einem Flur hörte man die Blechbläser, im anderen die Streicher, im nächsten Raum haben die Schlagzeuger gearbeitet, nebenan Holzbläser, Klavier, Harfe und so weiter. Aus den verschiedenen „Handwerken“ hat sich also das Orchester überhaupt erst nach und nach gebildet. Diese verschiedenen Organismen waren von mir auch kompositorisch unabhängig gebaut, und sie unabhängig voneinander arbeiten zu hören, war ein sehr starkes Erlebnis – das ich dann später auf der Bühne versucht habe, mit Licht und über räumliche Trennungen auch visuell transparent zu machen.
Die, sagen wir, analytische Behandlung des Orchesters in der Komposition resultierte also aus einem räumlichen und sinnlichen Eindruck?
Beides bedingt sich gegenseitig und entspricht auch einem ästhetischen Bedürfnis. Ich habe ja eine etwas andere musikalische Biografie als viele andere Komponisten, die Orchestermusik geschrieben haben. Und ich wollte meine eigenen Erfahrungen als improvisierender Jazz- und Rock- und zeitgenössischer Musiker ins Komponieren für einen großen Orchesterapparat einbringen, ohne meine ästhetischen Prioritäten zu verraten. Ich wollte mich also nicht einem bestimmten Jargon überantworten – wie das nach meinem Eindruck etwa Frank Zappa getan hat, als er für das „Ensemble intercontemporain“ komponierte. In seiner Verbeugung vor Pierre Boulez und dessen Klangkörper verflüchtigt sich dann das, was einen an Zappa interessiert.
Zugleich hatte ich diese riesigen Partituren vor Augen, die meine gleichaltrigen Komponisten-Kollegen übereinander türmen, in denen das Orchester praktisch aufgelöst ist, weil jeder der 16 ersten Geiger seine eigene Stimme hat. Mich hat es eher interessiert, an den gemeinsamen Ausdrucksmöglichkeiten anzuknüpfen, die das Orchester einmal stark gemacht haben – und zwar durchaus durch eine Zurücknahme der Komplexität. Letztlich musste ich Takt für Takt immer wieder neu entscheiden, wie komplex die Partitur wird, was in der Alten Oper sicher auf offene Ohren treffen würde, oder ob ich bewusst darauf verzichte, um mir selbst näher zu bleiben. Wenn plötzlich in „D & C“ der gesamte ‚Apparat‘ – also rund hundert Musiker – an fünf Akkorden arbeiten oder wenn wie in „The Country of Last Things“ alle Streicher virtuose Bewegungen homophon vollführen, das hat – in einem sehr übertragenen Sinne – vielleicht sogar etwas mit Popmusik zu tun oder mit dem Unisono bei Heavy Metal und ähnlich „grundsätzlichen“ Registern.
Es geht dabei um Energie?
Genau. Um Körperlichkeit.
Es gab bei der Uraufführung auch eine starke szenische Komponente.
Es gibt bei meinen szenischen Konzerten die Strategie, die verschiedenen Sätze des Zyklus’ mit einer bestimmten visuellen Temperatur zu kontextualisieren; viel mehr ist das nicht. Es geht nicht darum, Bilder zu erzeugen, die etwas illustrieren, sondern darum, die kompositorischen Strukturen auch sichtbar zu machen.
Gibt es in der szenischen Komponente Variationen?
Immer. Wie viele meiner Musiktheater-Stücke ist „Surrogate Cities“ ja auch ein szenisches Konzert, das gegenüber dem Raum, in dem es aufgeführt wird, sehr offen ist. Deswegen interessieren mich mehr als die Konzerthallen auch Räume, die zum Thema eine eigene Geschichte beitragen. Wir haben es zum Beispiel in einem alten, seit vielen Jahren und einem verheerenden Hurrikan nie mehr benutzten Kino in Charleston, South Carolina, aufgeführt, in Industriedenkmälern wie dem Bahnhof Stazione Leopolda in Florenz, oder – noch bevor es die Ruhrtriennale gab – in der Jahrhunderthalle in Bochum. Was also der Sampler ohnehin tut – nämlich in den Kontext eines Konzerts etwas zu implantieren, was dort normalerweise keinen Platz hat –, dafür suche ich auch eine visuelle Entsprechung. Es gab aber auch viele Opern- und Konzerthäuser, wie zum Beispiel das Teatro la Fenice in Venedig, das Théâtre des Champs-Élysées in Paris, die Berliner Philharmonie oder das Konzerthaus in Luzern, die dafür dann erst tauglich gemacht werden mussten. „Surrogate Cities“ gehört zu meinen häufiger aufgeführten Stücken, was erstaunlich ist, weil ich auf der Mikrophonierung des gesamten großen Orchesters bestehe – und das ist ein sehr aufwändiges Unternehmen.
Das hat vermutlich einerseits mit der außermusikalischen Thematik, andererseits mit der speziellen Klangästhetik zu tun.
Genau wie das Leben in der Großstadt ist ja bei mir die Klangästhetik weniger auf Verschmelzung aus als auf Trennung – auf die Trennung der Instrumente, der Instrumentengruppen, die Trennung zwischen den Körpern, die wir sehen, und den Klängen, die wir hören. Seit ich für „akademische“ Klangkörper komponiere, habe ich immer auf einer Verstärkung bestanden, um diese Trennung zu erreichen.
Würden Sie, wenn Sie diesen Auftrag heute bekämen, dieses Stück noch einmal genau so schreiben, oder sind Sie an einer ganz anderen Stelle?
Wenn ich es noch nicht geschrieben hätte, würde ich das wahrscheinlich tun.
So wie vor über 20 Jahren, mit ...
... der Offenheit der einzelnen Teile zueinander. Ich habe auch mit der Reihenfolge immer experimentiert, auch mit dem Weglassen oder Hinzufügen von anderen Stücken – es ist wie die Stadt kein in sich geschlossener Korpus, der so bleiben muss, wie er einmal aufgeführt wurde. Schon für die CD haben wir die Reihenfolge geändert, denn das Hören einer CD ist ein völlig anderer Vorgang als wenn man mit 2000 Leuten in einer großen Halle sitzt und weiß, da kommt man in den nächsten anderthalb Stunden nicht mehr raus.
Es gibt aber einen Aspekt an Ihrer Frage, den ich nicht beantworten kann. Ich hatte ja nie einen biografischen Karriereplan, ich habe immer Dinge angenommen, die mich herausgefordert haben, die ich noch nie gemacht hatte und die andere mir glücklicherweise zugetraut haben. Als ich 1994 den Auftrag bekam, für so einen großen Klangkörper zu schreiben, war ich einerseits eingeschüchtert, aber ich hatte andererseits auch nichts zu verlieren. Das ist ein Zustand, in den man so leicht nicht mehr zurück kann.
Von Einschüchterung war in der Uraufführung nichts zu hören – eher von Distanz, von Kritik an der Institution des bürgerlichen Orchesters. Zu hören war damals in Frankfurt für mich eine fast eisige Distanzierung von diesem Betrieb, der ja auch eine Klangwelt war und ist.
Ja, ich hatte vor allem eine große Distanz gegenüber dem Pathos eines solchen Aufführungszusammenhangs. Mich hat immer das Nicht-Akademische interessiert, deswegen auch die Einbeziehung der Stimmen von David Moss oder – damals – Gail Gilmore und heute Jocelyn B. Smith. Ich merke immer deutlicher, wie viel ich dabei mit Harry Partch (US-amerikanischer Komponist und Musiktheoretiker, 1901–1974, d. Red.) gemeinsam habe. Was er gemacht hat, hat mich seit Anfang der 80er Jahre elektrisiert: dass eine Musik denkbar ist, die sowohl mein Bedürfnis nach fremden, ungehörten Klängen befriedigt als auch meinem Anspruch an eine un-akademische Körperlichkeit genügt.
Gibt es auch etwas wie einen Gegensatz zwischen Band und Orchester?
Es gibt klassische Orchester, die wunderbare Bands sind. In „Surrogate Cities“ gibt es zum Beispiel Passagen, die auf einen Groove setzen, also auf einen gemeinsam empfundenen Puls und Rhythmus. Da tut sich manchmal das Opernorchester von Bologna leichter als eine Gruppe von Musikern, die auf zeitgenössische Musik spezialisiert sind. Ich erinnere mich noch, dass Simon Rattle (langjähriger Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, d. Red.), als wir bei der ersten Aufführung zusammen zum Applaus hinausgingen, zu mir sagte: „Auch den Streichern hat es Spaß gemacht“. Das ist mir nicht unwichtig. Ich spüre keine Überheblichkeit gegenüber dem Orchester. Ich denke immer auch an die, die die Arbeit tun müssen. Und das spüren sie offenbar auch.
ZUM STÜCK
Die als Auftragskomposition für die Junge Deutsche Philharmonie 1994 in der Frankfurter Alten Oper uraufgeführte Orchestersuite „Surrogate Cities“ ist eine zentrale Komposition Heiner Goebbels’. Durch die Mischung von „echtem“ Großstadtlärm mit riesigem Orchesterapparat entsteht ein fast neoimpressionistisches Klangbild, das zu gleichen Teilen auf den Körper wie die Sinne einwirkt. Die Tanzcompagnie und das Philharmonische Orchester Gießen unter Leitung von Martin Spahr werden gemeinsam mit den SolistInnen David Moss, Jocelyn B. Smith und Roman Kurtz das szenische Konzert zur Aufführung bringen. Rund 250 SchülerInnen der Gesamtschule Gießen-Ost werden sich aktiv daran beteiligen.
ZUR PERSON
Heiner Goebbels , geboren 1952 in Neustadt an der Weinstraße, ist Komponist, Hörspielautor, Theatermacher, Bildender Künstler. Er war von 2012 bis 2014 Intendant der Ruhr-Triennale sowie seit 1999 Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften an der Gießener Justus-Liebig-Universität, das er von 2003 bis 2011 leitete. Seit dem Sommersemester hat er die Georg-Büchner-Senior-Professur inne. Heiner Goebbels wurde vielfach für seine Arbeiten ausgezeichnet, zweimal für den Grammy nominiert. 2012 erhielt er den Ibsen-Preis, einen der international wichtigsten Theaterpreise. Heiner Goebbels lebt in Frankfurt.
Hans-Jürgen Linke, 14.09.2018, Gießener Anzeiger