Es klingt unerhört, wenn das HR-Sinfonieorchester im Stadttheater zu Gast ist. Und dann haben die Musiker diesmal auch noch einen unbändigen Virtuosen dabei.
Es ist die Präzision, die fasziniert, gepaart mit dieser Detailverliebtheit und einem Esprit, wie er in der Konzertlandschaft nicht oft existiert. Einmal im Jahr gibt sich das HR-Sinfonieorchester im Stadttheater die Ehre. Und einmal im Jahr sind schon in der Pause alle begeistert von einem Klangkörper, der zu den führenden in Europa zählt. Am Pult agiert mit Gastdirigent Pablo González ein impulsiver Spanier. Er leitet das Orchester mit sicherer Hand.
Und dann steht am Samstag auch noch ein Solist auf der Bühne, der den Atem raubt. Der junge österreichische Geiger Emmanuel Tjeknavorian interpretiert mit technischer Raffinesse das Violinkonzert d-Moll des Finnen Jean Sibelius. Die nordische Harmonik und der spätromantische Stil des Stücks von 1903 sind dem 23-Jährigen in Fleisch und Blut übergegangen. Der Virtuose gewann damit beim Sibelius-Violinwettbewerb den Preis als bester Interpret dieses Konzerts.
Souverän spielt dazu das Frankfurter Orchester auf. Die Musiker nehmen sich nicht etwa zurück, sie legen sich unter der wohlfeilen Führung von González im Tutti sogar mächtig ins Zeug, wenn Tjeknavorian Pause hat, während sie ihn bei seinen verwegenen Soli dunkel temperiert unterstützen.
Der Österreicher meistert auf seiner Stradivari aus dem Jahr 1698 die technischen Schwierigkeiten mit einer unter die Haut gehenden Chuzpe. Doppelgriffe, Chromatik, Synkopen – die Feinheiten sitzen bei ihm ebenso wie das wilde Voranstürmen, das Tjeknavorian als forcierte Leidenschaft präsentiert. Schon das Allegro moderato zu Beginn drückt die gebannt lauschenden Zuhörer in den Sitz. Trotz endlos scheinendem Applaus gönnt der Künstler dem Auditorium am Ende keine Zugabe.
Nach der Pause die 2. Sinfonie von Carl Nielsen. Wer von sich wissen will, welcher Typ Mensch er ist, hört sich das Werk des Dänen genauer an. Inspiriert von einem Bild in einer Dorfschenke, folgt Nielsen seinem Credo »Musik ist Leben«, indem er 1902 in den vier Sätzen vier menschliche Temperamente skizziert. Da ist zum einen der Choleriker, der zu Wutausbrüchen neigt, und im Auftakt-Allegro vom Leder zieht. Der schwerfällige Typ des Phlegmatikers kommt im zweiten Satz nicht so recht von der Stelle und macht es sich stattdessen im beschaulichen Ambiente gemütlich. Der zu Schwermut neigende Melancholiker setzt in Satz drei noch einen drauf, wenn es ums Düstere geht. Der Sanguiniker schließlich, der bisweilen leichtsinnige Typ, stürmt im Finalsatz mit Pauken und Trompeten voran.
González bleibt am Pult geschmeidig, setzt gleichwohl zackige Akzente und bürgt für ein hohes Tempo. Das Orchester zeigt seine Erfahrung in der Interpretation des Werks, schließlich hat der ehemalige Chefdirigent Paavo Järvi die Musiker im Rahmen seiner Gesamteinspielung aller Nielsen-Sinfonien auf Kontinuität getrimmt.
Zum Einstieg in den Abend dirigiert González musikalische Italien-Impressionen von Hector Berlioz. In der bildhaften Ouvertüre des Franzosen aus dem Jahr 1844 mit dem Titel »Römischer Karneval« verstecken sich Selbstzitate, weshalb das italienische Feuer auch nach Pariser Chic klingt.
Manfred Merz, 25.03.2019, Gießener Allgemeine Zeitung