Das Stadttheater Gießen hat die Europawoche ins Leben gerufen. Anlass ist die am 26. Mai stattfindende Wahl zum Europäischen Parlament. Neben verschiedenen Veranstaltungsformaten fand in der taT-Studiobühne eine Diskussion mit fünf Kandidaten statt. Am Ende zeigte sich: Es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Positionen.
Das Stadttheater Gießen hat unter der Leitung von Cathérine Miville die Europawoche ins Leben gerufen. Anlass ist die am 26. Mai stattfindende Wahl zum Europäischen Parlament. Neben verschiedenen Veranstaltungsformaten fand am Sonntagabend in der taT-Studiobühne eine Diskussion mit fünf Kandidaten statt. Moderiert von Prof. Claus Leggewie und Behzad Borhani vom Stadttheater Gießen wurde über die CO2-Steuer, die Wahlbeteiligung, Freihandelsverträge und Klimaschutz debattiert. Am Ende zeigte sich: Es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in den Positionen.
Die Studiobühne platzte aus allen Nähten, das Format ist beliebt. Unter den Gästen waren einige bekannte Gießener Gesichter. Das ist nachvollziehbar, schließlich hat sich eine hochkarätige Besetzung zusammengefunden. Vor den Schlagworten von Miville "Austausch, Diskurs, Disput" diskutieren Dr. Udo Bullmann (SPD), Prof. Sven Simon (CDU), Dr. Thorsten Lieb (FDP), Katrin Schleenbecker (Bündnis 90/Die Grünen) und Hermann Schaus (Die Linke) mit den Gästen und untereinander. Schleenbecker vertrat dabei Martin Häusling und Hermann Schaus seinen Parteikollegen Ali Al-Dailami. Nicht vertreten war die AfD. "Wir haben alle eingeladen. Aber nachdem wir bei der Terminfindung hin- und hergeschrieben haben, kam plötzlich keine Reaktion mehr", erklärte Miville das Fehlen der rechtspopulistischen Partei. Dies zweifelte ein Gast an. Er warf Miville vor, bewusst Kandidaten nicht einzuladen, um einen öffentlichen Diskurs mit allen Positionen zu verhindern. Diese Aussage wurde begleitet von vielen Buh-Rufen - das Chaos war perfekt. Mivilles Erwiderung erntete tosenden Applaus: "Wir haben es nicht nötig, Sie anzulügen, denn wir sind sehr daran interessiert, mit allen Positionen in einen Austausch zu treten."
Intensiver Austausch
Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, fragte Leggewie, wie die einzelnen Parlamentarier ihre Region in Brüssel beziehungsweise Strasbourg vertreten wollen. "Wird man nicht automatisch zum Europäer?", lautete seine Frage. Bullmann versicherte, er wolle nicht weggehen, sondern Europa etwas näher nach Gießen bringen. Der Fan des FC Gießen wäre auch beim Aufstiegsspiel lieber hier gewesen und wünscht sich mehr Zeit in seiner Heimatstadt. Simon könnte sich eine Fahrgemeinschaft vorstellen. Aber "Spaß beiseite", Gießen sei eine sehr internationale und europäische Stadt, vor allem durch die Universität. Es gehe darum, gemeinsame Werte zu leben und gleichzeitig kulturelle Vielfalt zu entdecken. Lieb ist ein Frankfurter Politiker, er hat damit den Europabezug direkt vor der Tür: "Durch die Europäische Zentralbank zählt Frankfurt zu den wichtigen Städten in der EU. Für mich ist die Währungsunion das zentrale Thema. Der Euro ist ein Verbindungselement. Und natürlich ist es wichtig, vor Ort zu sein und für die Menschen einzutreten." Katrin Schleenbecker unterstrich die Bedeutung der Klimaschutzpolitik. Dieses sei das wichtigste europäische Problem. "Das können wir nur mit einer europäischen Lösung angehen." Bei Schaus' Vergleich des Europaparlaments als "riesiges Raumschiff" gab es Beifall, ein intensiver Austausch der Europapolitiker mit den Menschen direkt sollte immer an erster Stelle stehen. Nur am Rande beantworteten die Politiker damit die Frage von Leggewie. Ein Muster, das sich durch den gesamten Abend ziehen sollte.
Am 5. Mai 1949 wurde der Europarat gegründet, der mit 47 Staaten als Vorläuferorganisation der EU angesehen werden kann. Bei der letzten Europawahl haben nur 41 Prozent der in Gießen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Um die Bürger wieder mehr einzubeziehen, konnten unter #treffEU via Twitter Fragen gestellt werden, die dann im Gespräch mit den Kandidaten thematisiert werden sollten. Doch die Politiker schweiften immer wieder ab oder antworteten so ausführlich, dass inhaltlich nur wenige Themen angesprochen werden konnten.
Simon sagte zur CO2-Steuer: "Wir müssen besser werden. Mehr machen, weniger reden." Es bestehe die Gefahr, dass sich wohlhabende Unternehmen freikaufen könnten. Als Alternative schlägt er Zertifikate vor. Bullmann kritisiert Macrons Vorgehen, die Reichensteuer zu streichen: "Man muss ein Konzept erarbeiten, wie sozialer Ausgleich gestaltet werden kann. Man muss ein sozialeres Europa, ein sozialeres Deutschland und ein sozialeres Hessen einfordern." Hier seien Umverteilungen ein Instrument, das genutzt werden müsse. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen seien der Kompass, an dem man sich orientieren wolle. Auch Lieb unterstrich die Forderung nach einer europäischen Lösung, denn: "Weder Sonne, noch Wind, noch Schadstoffe machen Halt an Landesgrenzen." Es sei jedoch wichtig, eine technologieneutrale Energiewende durchzusetzen. Lieb forderte, die Rolle von "Experten" in diesem Prozess anzuerkennen. Grünenpolitikerin Schleenbecker schloss sich Bullmann an und plädierte für eine CO2-Steuer, die so ausgestaltet sein müsse, dass sie nicht zulasten derjenigen gehe, die es sich nicht leisten können. "Mobilität in der Region zum Nulltarif", das fordert die Linke um Hermann Schaus. Es könne nicht sein, dass man mit dem Flugzeug günstiger nach Brüssel kommt als mit der Bahn.
Offene Fragen
Die Fragen der Gäste bezogen sich auf den Zertifikatehandel, Freihandel als Friedensprojekt, Multireligiösität (Reaktion Simon: "Wir schaffen das."), den Umgang mit Automobilkonzernen und die Entwicklung, dass Nichtwähler zu Rechtswählern werden. Leggewie und Borhani machten auch zum Schluss noch einmal deutlich, dass es um eine Annäherung an Europa gehe, und nicht um eine Verhärtung der Positionen. Mit "Danke für Ihr Interesse an Europa" endete der Abend. Zurück blieben einige offene Fragen - und viel Optimismus.
Charlotte Gemmeke, 07.05.2019, Gießener Anzeiger