Adriana Altaras liest aus ihrem neuen Roman und verrät, wie oft man durch eine Fußgängerzone gehen kann, ohne Selbstmord zu begehen
Heimspiel im „Epizentrum“. So wenig wie Adriana Altaras von Gießen loskommt, so wenig hat die hassgeliebte Heimatstadt seine in der Fremde zu verdientem Ruhm und Anerkennung gelangte Tochter vergessen. Das Stadttheater ist nahezu ausverkauft, als die 58-Jährige dort ihren neuen und dritten Roman „Die jüdische Souffleuse“ vorstellt. Aber was heißt hier schon Roman. Die tolldreistesten Geschichten schreibt immer noch das Leben, das hat Altaras bei ihrem Vorbild Isaac Bashevis Singer gelernt, bei dem schon mal ein Dibbuk (jüdischer Totendämon), auf der Überfahrt in die neue Welt, des Helden gerade auf dem Schiff entdeckte große Liebe raubt.
„Die jüdische Souffleuse“, sagt Altaras, ist ihr dritter Familienroman. Erzählte ihr Debüt „Titos Brille“ noch die Geschichte ihrer Eltern und „Doischa“, die Irrungen und Wirrungen ihrer eigenen multikulturellen Mischpoke zwischen Berlin, Haifa und Westfalen, dreht sich diesmal – vordergründig – alles um das Theater. Dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten, dieses Treibhaus, in dem die Neurosen trefflich gedeihen, ist der Schauspielerin, Theaterregisseurin und Dramaturgin natürlich bestens vertraut und auch eine Art von Familie. In einer „im Krieg zerstörten Stadt“, deren Zentrum „ein Konzentrat der Nachkriegsarchitektur“ ist (Altaras: „Ich habe nicht Gießen gesagt!“), hat die Protagonistin die irrwitzige Aufgabe übernommen, Mozarts „Entführung aus dem Serail“ zu inszenieren, dabei kann sie mit Opern wenig und mit Mozart noch weniger anfangen. Warum singt dieser Belmonte drei Arien, bevor er überhaupt in die Puschen kommt, um seine Konstanze zu retten?
Nicht minder drollig geht es hinter der Bühne zu. Mit schnoddrigem Humor spießt Altaras das ganze Panoptikum der Profilneurotiker und eitlen (Selbst)darsteller auf, die so ein Kleinstadttheater bevölkern. Und dann ist da noch diese aufdringliche Souffleuse, die der Ich-Erzählerin nicht von der Seite weicht und gehörig auf den Geist geht „Aha. Von daher weht der Wind. Eine Philosemitin“, liest Altaras vor und ergänzt frei. „Dafür gibt es doch Ärzte oder Lea Rosh“.
Doch weit gefehlt: Souffleuse Susanne heißt eigentlich Sissele und steht auf der anderen Seite des großen Zivilisationsbruchs des 20. Jahrhunderts. Mit den Worten: „Ich mache immer einen blöden Witz, wenn es ganz hart kommt“ und dem Rat: „Sie müssen in der Pause trinken. Sie werden es brauchen“, schickt Altaras das Publikum nach einer Stunde ins Foyer. (Die guten Witze hebt sie sich fürs Finale auf).
Nach der Pause folgt auf den Zucker der Blick in den Abgrund. Wie in allen Werken Altaras‘ ist das Grauen nie weit vom Gelächter entfernt. In einer ebenso einfühlsamen wie mitfühlenden Sprache erzählt die Schriftstellerin die Geschichte einer Liebe, die zwischen den Baracken und Gaskammern des Vernichtungslagers entsteht und Jahrzehnte später noch immer Menschen umtreibt. In diesem zweiten Teil nimmt Sissele die Erzählerin (oder ist es umgekehrt?) mit auf eine Odyssee um die Welt und durch das 20. Jahrhundert, Kanada, Bad Arolsen oder Mauthausen sind nur einige Etappen auf dem Weg zu einer Auflösung, die an diesem Abend naturgemäß den Lesern der „jüdischen Souffleuse“ vorbehalten bleiben muss.
Als Zugabe und Rausschmeißer serviert Altaras ihren auch nach zwei Stunden noch gebannt lauschenden Zuhörern die Kurzgeschichte „Provinz“, in der unter anderem die Frage geklärt wird, wie oft man durch eine Fußgängerzone gehen kann, ohne Selbstmord zu begehen. Nun, die altersmildere Antwort auf diese einst im adoleszenten Aufruhr gestellte Frage fällt versöhnlich aus. Vielleicht sogar versöhnlicher, als es diese Welt verdient hat.
Ingo Berghöfer, 27.11.2018, Gießner Anzeiger