"Raststätte": Master-Abschlussarbeitet des ATW-Studenten Martin Mader feiert am Mittwoch Premiere in Gießen
Die Gedichtsammlung "Die Blumen des Bösen" von Charles Baudelaire (1821 - 1867) markiert mit ihrer Thematisierung von Rast- und Ruhelosigkeit den Beginn der modernen europäischen Lyrik. Nun hat sich der junge Regisseur Martin Mader für sein Master-Abschlussprojekt am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) des Klassikers angenommen. Seine in einer Gruppenproduktion für die Bühne entwickelte szenische Variation des Stoffs feiert am Mittwoch, 13. März, Premiere auf der taT-Studiobühne.
Baudelaire hat ihn schon immer gereizt, erzählt der aus Innsbruck stammende Theatermacher bei einem Gespräch zusammen mit Produktionsleiterin Marietheres Granser im Probenraum. Mader fasziniert vor allem die Beschäftigung des Dichters mit dem eigenen Begehren, die Suche nach Selbstverwirklichung, "wie wir das heute nennen". Baudelaire habe damals die Gemüter erregt, sei für seine Verse sogar juristisch angegriffen worden, weil sie als sittenverletzend gegolten und den Anstand verletzt haben. "Heute ist das Thema wie selbstverständlich in unterschiedlichste Teilbereiche unseres Lebens eingesickert", stellt Mader fest. Alleine die Popkultur sei voll davon.
In seinem Stück setzt der Österreicher ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitswelt, in der dieses Streben nach individueller Erfüllung "aus jeder Stellenanzeige in der Zeitung spricht". Es sei eine "wie wahnsinnige Suche, die aber nie zu einem Endpunkt kommt. Wie im Hamsterrad: Je schneller man läuft, umso schneller dreht es sich." Im Stück heißt es: "Weiter, weiter, weiter. Man muss immer weiter". Doch wohin dieser Weg führt, bleibt für Mader offen.
Diese Entwicklung, weg von den strengen gesellschaftlichen Konventionen, hin zur schrankenlosen individuellen Selbstverwirklichung, sei Fluch und Segen zugleich und gerade für unsere gegenwärtige Arbeitswelt sehr aktuell, hat der junge Regisseur festgestellt. Das gelte auch für ihn persönlich und das Theater, das für diese Suche als bestes Beispiel diene. "Formen der Selbstausbeutung sind bei uns an der Tagesordnung." Überhaupt seien gerade die kreativen Berufe stark betroffen: Dieser Konflikt tue sich überall dort auf, "wo die Leidenschaft auf ökonomischen Zwang trifft". Doch er kann dem Thema auch eine humorvolle Seite abgewinnen: "Weil man sich bei der Suche nach dem Glück auch selbst beobachten und von sich selbst distanzieren kann."
Geschrieben hat der Österreicher den Text des Stückes allein, in dem Baudelaires Gedichte auf die Dialoge zweier Schauspieler treffen. Für die Regie hat er sich mit dem Berliner Hannes Schladebach zusammengetan, den er am Gießener ATW kennengelernt hat und mit dem sowie Produktionsleiterin Marietheres Granser und weiteren Mitstreitern das Theaterkollektiv Thealog gegründet hat. Die Gießener Hochschule sei für ihn in den vergangenen drei Jahren zu einem Glücksfall geworden, schwärmt Mader. Denn hier gebe es die Möglichkeit, experimentelle Theaterstoffe auszuprobieren und dem Publikum Assoziationsspielräume auf ungewöhnliche Weise zu ermöglichen. In der rund einstündigen Inszenierung werden die Gedichttexte über Bildschirme transportiert und von zwei Schauspielern dialogisch "eingekreist", die über Selbstverwirklichung reflektieren. "Wir wollen damit assoziativ zeigen, wo Verbindungslinien zwischen Baudelaire und diesen zwei Figuren zu finden sind, die ihre Selbsterfüllung hauptsächlich der eigenen Arbeit sehen", erläutert der Theatermacher.
"Raststätte" heißt das Stück übrigens, weil Mader darin der metaphorische Gehalt zusagt. "Hätte Baudelaire Raststätten gekannt, hätten sie ihm gefallen", ist er sich sicher. Denn der Dichter "hatte einen Blick für Dinge, die Menschenmassen anlocken, in denen sich Herkunft und soziale Unterschiede auflösen". Zudem sind Raststätten für ihn selbst paradoxe Orte: Sie versprechen Erholung und Ruhe, "dabei herrscht dort großes Gewimmel, jeder ist gestresst und will nur weg und weiter". Hinzu kommt: "Ruhe und Erholung werden die Zuschauer auch bei uns nicht finden", verspricht Mader.
Björn Gauges, 08.03.2019, Gießener Anzeiger