"Wie hast Du's mit der Religion?" Diese Frage diskutierten "Impulsgeber" unterschiedlicher Religionen mit rund 120 Gästen auf der Bühne des Stadttheaters. Die Antworten waren vielfältig.
"Wie hast Du's mit der Religion?" Diese Frage diskutierten "Impulsgeber" unterschiedlicher Religionen mit rund 120 Gästen auf der Bühne des Stadttheaters. Die Veranstaltung war Teil der bundesweiten Reihe "Die offene Gesellschaft" und wurde von Prof. Claus Leggewie sowie Behzad Borhani moderiert. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland mittlerweile 36,2 Prozent der Bevölkerung konfessionslos sind und auch in Gießen und Umgebung nur noch Zweidrittel einer Gemeinde angehören, warf Claus Leggewie die Frage auf, was Religion eigentlich ist. "Orientierung", "Opium fürs Volk", "Nächstenliebe", "über mich hinauswachsen", "lebenslanges Gespräch" oder - wie es der jüngste Diskussionsteilnehmer formulierte - "alles vom Strauch bis hin zu einer höheren Macht" lauteten die Antworten.
"Gießen ist ein super Beispiel für das Zusammenleben unterschiedlichster Religionen", betonte Behzad Borhani. Eine Aussage, die immer wieder bestätigt wurde. Was Glaube und Religion für sie bedeutet, erläuterten die "Impulsgeber": "Glaube ist Identität, eine Heimat, in der ich mich wohlfühle", verdeutlichte Lawrence De Donges Amis-Amis, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gießen. Als Kind einer jüdischen Mutter sei er im jüdischen Glauben erzogen worden, nehme sich als liberaler Jude aber die Freiheit, samstags auch mal nicht in die Synagoge zu gehen. Die Kippa erinnere ihn daran, dass "etwas über ihm stehe". "Wir wollen mit allen Menschen zusammenarbeiten", sprach er für die etwa 370 Juden in Gießen.
"Wenn ich es bequem haben will, ist das mit dem Christentum nicht das Richtige", formulierte Jutta Becher, die als Geschäftsführerin der Evangelischen Studierendengemeinde ihren "Traumjob" gefunden hat. Jesus habe auch nicht gedacht: "Hauptsache, ich habe meine Ruhe." Auffällig sei, dass für internationale Studierende die Religion einen größeren Faktor darstelle als für deutsche Studenten. Viele würden hier ihren Andockpunkt entdecken. "Mitgläubige aus anderen Religionen sind eine große Bereicherung."
"Mein Glaube trägt mich", unterstrich der in Marrakesch geborene Abderrahim En-Nosse, Islamischer Vorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft. Bereits mit drei Jahren habe er die Koranschule besucht und sei später sowohl auf eine französische als auch auf eine deutsche Schule gegangen. Seinen Magister habe er schließlich in Gießen gemacht. Zu dieser Zeit habe er sich in der Katholischen Hochschulgemeinde engagiert und dabei auch Karl Kardinal Lehmann kennengelernt. "Ein guter Muslim kennt sich gut im Judentum und im Christentum aus", antwortete En-Nosse auf eine Frage aus dem Publikum.
"Es gibt keinen Himmel, es gibt keine Hölle und es gibt auch kein Leben nach dem Tod", meinte wiederum Elke Metke-Dippel, Vorstandsmitglied des Humanistischen Verbands Deutschland in Gießen. In einer strenggläubigen evangelikalen Familie aufgewachsen, habe sie ihr Elternhaus früh verlassen, sei nach Kanada gezogen und habe später für ein internationales Hilfswerk gearbeitet. "Ohne Religion lebe ich befreiter und schätze andere Menschen mehr." Bei Evangelikalen gehe es nur um Rechthaberei. "Alle Religionen beanspruchen die Wahrheit für sich." Ihre Aussage "Wir sind gut, wir brauchen keinen Gott" stieß dabei allerdings auf erheblichen Widerspruch.
"Alle Religionen bündeln Menschen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind. Wenn Religion allerdings mit Machtanspruch verbunden wird, wird es schräg", betonte Stadtpfarrer Klaus Weißgerber. "Glaube ist der Anstoß, um rauszugehen", so Weißgerber, dessen "Arbeitsplatz die Straße ist". Jakob Christoph Handrack, Vorsitzender des Fördervereins der katholischen Gemeinde St. Thomas Morus, findet seinen Zugang zur Religion über die Musik. Zur Förderung eines zurückgehenden Gemeindelebens sei der Förderverein 2013 gegründet worden.
Wie er persönlich zum Glauben gekommen ist, berichtete ein 62-Jähriger aus dem Publikum. "Gott hat nicht nur die Last meiner Jugendsünden getragen, sondern mich vor eineinhalb Jahren auch vom Asthma geheilt."
"Toleranz ist negativ behaftet, Akzeptanz zählt", brachte es Lawrence De Donges Amis-Amis zum Abschluss eines interessanten Abends auf den Punkt. Intendantin Cathérine Miville freute sich, dass ihr Theater einmal mehr "ein Marktplatz der Gedanken" war.
Petra Zielinski, 20.11.2018, Gießener Anzeiger