Diese Inszenierung sollte man sich nicht ohne Vorbereitung anschauen. Thomas Krupa setzt mit »Orlando« im Stadttheater nämlich nicht den Roman von Virginia Woolf an sich in Szene.
Ein Gefühl von Überwältigung hatte sich Regisseur Thomas Krupa bei den Zuschauern seiner Version von »Orlando« erhofft. Das hat er erreicht. Wenngleich sich auch ein wenig Überforderung dazugesellen mag. Krupa inszeniert Virginia Woolfs Roman »Orlando« nämlich nicht als schillerndes Porträt einer zwischen Geschlechtern, Lebensentwürfen und Jahrhunderten changierenden Kreatur, sondern als Hörbucheinspielung des Romans, in der die Hauptfigur nur in Erzählungen auftaucht. Krupas Fokus liegt auf der Autorin: der von psychischen Ausnahmezuständen und einer verzehrenden Liebe zu Vita Sackville-West (Paula Schrötter) gepeinigten Virginia Woolf.
Virginia spricht und tanzt
Carolin Weber spielt diese Virginia mit größtmöglicher Intensität und demonstriert damit wieder einmal ihr schauspielerisches Format. Im schwarzen Hosenanzug, mit dunkler Pony-Fransenmähne verkörpert sie Virginia ohne androgyne Attitüde, aber mit Stimmen im Kopf, einem Gefühl des Hin- und Hergerissenseins und großer Verletzlichkeit. Was sie mit Worten nicht auszudrücken vermag, setzt Tänzerin Mamiko Sakurai in Bewegungen um. Doch weil das Ganze in die Probensituation eines Tonstudios eingebettet ist, bleiben beider Ausdrucksmöglichkeiten über weite Strecken beschränkt. In dem holzverkleideten, ebenfalls von Regisseur Krupa entworfenen Cubus im Stil der Abbey-Road-Studios stehen alle Akteure an ihren Mikrofonen, lesen Passagen aus Woolfs Text ein. Das bleibt sehr statisch. Wie ein Befreiungsschlag mutet es dann an, als alle plötzlich ein Tänzchen (Choreografie: Mamiko Sakurai) einlegen. Endlich Bewegung, endlich Aktion, endlich Lust am Leben.
Von der barocken Pracht und überbordenden Fantasie des »Orlando«-Romans bekommt man als Zuschauer nur eine vage Vorstellung. Wenn Königin Elisabeth I. in Person Tom Wilds auftritt, der auch Virginias geduldigen Ehemann Leonard gibt, dann muss man sich das anhand der roten Haare zusammenreimen. Auch die androgyne Harriet (Pascal Thomas), der Orlando in einem späteren Lebensabschnitt begegnet, wird wie eine Wachsfigur ausgestellt – die Gesichter jeweils riesengroß und ästhetisch reizvoll auf die Tonstudiowand projiziert. Mark Polscher sorgt mit seiner Musik – Cembalogeklimper, elektronisch veränderten Klängen und fremdartigen Geräuschen – für Atmosphäre. Kostümbildnerin Monika Gora gelingt der Spagat, die Schauspieler in zeitlose und eher queere Gewänder zu kleiden, ohne dass das allzusehr nach Travestie ausschaut.
Große Intensität
Immer wieder brechen die Akteure der Tonstudio-Session aus ihren Rollen aus und erzählen ihre vermeintlich persönlichen Erlebnisse mit den Geschlechterrollen. Johanna Malecki lässt in die Seelennöte eines Hermaphroditen blicken, Pascal Thomas erzählt von der Anziehungskraft der Androgynität und der Lust am Spiel mit Transsexualität. Beides Momente von großer Intensität, die nachdenklich stimmen und zeigen, dass hinter dem Buchstaben »d« in Stellenanzeigen Schicksale stecken.
Für die von Regisseur Krupa gewünschte Überwältigung sorgen definitiv die wie Irrlichter aufblitzenden kurzen Szenen, in denen Figuren mit riesigen Schwellköpfen eifersüchtig streiten, ein Eisbär seine schmelzende Scholle traurig vor sich her schiebt oder der blinde Mister Pope (herrlich komisch gespielt von David Moorbach) zur Teegesellschaft über Brexit und geheime Laster eines britischen Premierministers lästert. Diese Szenen sorgen für willkommene Abwechslung im ansonsten doch eher statischen Spiel, aber auch für Verwunderung. Brexit und Klimawandel – neben der ohnehin schon komplexen Geschlechterthematik ist das ein bisschen zu viel des Guten.
Krupas Ansatz, den Roman nicht als Geschichte selbst auf die Bühne zu bringen, ist durchaus konsequent. »Orlando« ist eben kein Theaterstück, sondern ein Roman. Das hat in seiner Inszenierung auch Bestand. Die Idee, sich auf die Autorin und die Aufnahme im Tonstudio zu konzentrieren, lässt den zweistündigen, pausenlosen Abend allerdings erst mit Anlauf Fahrt aufnehmen. Wenn am Ende aber die Fische im Fluss, in dem sich Virginia das Leben nehmen will, als Ballons durch den Saal schweben, dann ist das Publikum durchaus ein Stück weit überwältigt – im positiven Sinne.
Zusatzinfo Einführungsvorträge
Vor jeder Vorstellung findet um 19 Uhr im Foyer des Stadttheaters ein kurzer Einführungsvortrag mit Produktionsdramaturgin Carola Schiefke statt. Dort erhalten die Besucher Hintergrundinformationen zu Virginia Woolf und ihrem Roman »Orlando«. Weitere Vorstellungen sind am 1. und 22. März, 20. April, 3. und 26. Mai, sowie 8. und 27. Juni.
Karola Schepp, 25.02.2019, Gießener Allgemeine Zeitung