Viele lose Erzählfäden: Thomas Krupa zeigt eine „Reise durch die Jahrhunderte“ nach Vorlage des Romans „Orlando“ von Virginia Woolf
„Ich will über die Stränge schlagen, und zwar gewaltig“, notierte Virginia Woolf in ihrem Tagebuch – bevor sie „Orlando“ im Jahr 1928 veröffentlichte. Zu einer „Biographie“ erklärte sie das Werk im Untertitel, tatsächlich handelt es sich aber um einen Roman, der voller märchenhafter Elemente steckt, eine Art Kulturgeschichte Englands über mehr als dreihundert Jahre birgt und gleichzeitig mit einigem Humor die Geschlechterrollen von Mann und Frau hinterfragt. Ein bisschen Biographie ist übrigens auch noch darin zu finden, „Orlando“ verwendet Anleihen aus dem Leben von Vita Sackville-West, der damaligen Liebhaberin der großen englischen Schriftstellerin.
Überbordendes Material
Es geht also um ein Buch, das eine schier überbordende Menge an Material zusammenträgt. Wie lässt sich das nun gewinnbringend für die Bühne nutzen? Gastregisseur Thomas Krupa versucht es mit einer Fülle assoziativer Motive, knapper Andeutungen, kurzen Gedankensplittern – und fügt der opulenten Vorlage sogar noch einige eigene Ideen hinzu, von denen manche auch ohne Sprache auskommen. Am Samstagabend feierte „Orlando“ nach dem Roman von Virginia Woolf auf der Großen Bühne des Gießener Stadttheaters seine Premiere – ein knapp zweistündiger Theaterabend, der zwiespältige Eindrücke hinterließ.
Relativ bald nach Beginn des Stücks skizziert die im Mittelpunkt stehende Erzählerin Virginia (Carolin Weber) ein eindrückliches, in seiner grotesken Grausamkeit plastisch vor Augen stehendes Bild. London steckt im frühen 17. Jahrhundert im festen Griff einer Kälteperiode. Die Themse ist zugefroren und unter der dicken Eisschicht verbirgt sich eine seltsame Szenerie: der gesunkene Lastkahn einer Markthändlerin, die ihr plötzliches Ende auf dem Grund des Flusses gefunden hat, während sich um sie herum noch immer die Äpfel in den Obstkörben türmen. Dieses bizarre Schauspiel fasziniert nicht nur den jungen Orlando, auch König James zieht es mitsamt seiner Höflinge immer wieder zu der Stelle auf dem Fluss, um dieses Memento mori durch die Eisdecke hindurch zu bestaunen.
Und so wie die Londoner des Jahres 1608 durch das Eis starren, so schaut das Publikum auch auf die ganz unterschiedlichen Bilder, die dieser Theaterabend auf der Bühne bereithält – hinter einer auf- und abfahrenden durchsichtigen Folie. Dabei befinden sich die Figuren zu Beginn in einem Londoner Tonstudio (den Abbey Road Studios der Beatles nachempfunden), um den Text der Vorlage einzusprechen. Das Zentrum der Szenerie bildet Carolin Weber, die als blasse, rauchende Virginia Woolf mit schwarzer Perücke und dunkler Kleidung in der Bühnenmitte am großen Mikro steht. Mit fesselnder Erzählstimme führt sie in die Romanhandlung ein und beweist, dass „Literatur eine Simulationsmaschine ist“, wie es an einer Stelle heißt. Die Geschichte beginnt im England des 16. Jahrhunderts. Orlando ist ein junger Adliger, der von Königin Elisabeth mit Geschenken überhäuft wird. Sie wünscht sich, dass er niemals altern solle – und dem attraktiven jungen Mann gelingt es tatsächlich, diesem Wunsch zu entsprechen.
Er reist durch die Jahrhunderte, lernt die unterschiedlichen Gesellschaften kennen, entdeckt epochale Veränderungen – und damit auch die Flüchtigkeit von scheinbar in Stein gemeißelten Gewissheiten. Zunächst lebt Orlando in London, später auf seinem herrschaftlichen Landsitz, irgendwann geht er als Gesandter des Königshofs nach Konstantinopel, bevor er als Frau ins viktorianische Großbritannien zurückkehrt und schließlich im 20. Jahrhundert landet – mit der Erfahrung von 300 Jahren Leben in einem weiblichen Körper von gerade 36 Jahren.
All diese Stationen des beide Geschlechter gleichermaßen verkörpernden Helden reißt Carolin Weber als Erzählerin immer wieder an. Doch darüber legt sich im Stück mehr und mehr das Bild der berühmten Schriftstellerin selbst, die viele Jahre lang unter Depressionen, Nervenzusammenbrüchen und Wahnvorstellungen litt. Ausdruck gibt diesen inneren Dämonen eine zweite Virginia. Es ist die Tänzerin Mamiko Sakurai vom Gießener Ballettensemble, die immer wieder für kurze Solopartien in den Bühnenvordergrund tritt oder das Geschehen am Bühnenrand in Bewegung übersetzt.
Doch auch andere Momente und Motive erzählen von der wahren Schriftstellerin, wenn sie etwa von ihrer Gefährtin Vita Sackville-West (Paula Schrötter) umschwärmt wird, oder später ihr langjähriger Ehemann Leonard (Tom Wild) um das Seelenheil Virginias kämpft.
Tanz und Töne
Wäre das nicht schon Stoff genug, lässt Regisseur und Bühnenbildner Krupa sein Ensemble auch immer wieder vom Romanstoff abschweifen. So gibt es etwa eine augenzwinkernde Tanzeinlage, ein derbes Ehedrama mit überdimensionierten Puppenköpfen, das an die Comedia de’ll Arte erinnert, einen traurigen den Bühnenrand entlangwandernden Eisbären. Hinzu kommt die Musik von Mark Polscher, der stets den richtigen Ton trifft, wenn er etwa einen von Band eingespielten Shanty-Chor unvermittelt in opulenten Barockgesang übergehen lässt, meist aber mit subtil fiependen oder knarzenden Töne die Atmosphäre untermalt.
All das bietet dem Publikum viele Schauwerte und manche gelungene Überraschung. Doch bisweilen gehen die Ideen mit Thomas Krupa durch. Ein vielfach zu beobachtendes Ärgernis ist es, Schauspielstoffe aller Art mit überdeutlich tagesaktuellen Einsprengseln zu befrachten. Davon kann auch dieser Regisseur nicht lassen. Und so sorgt er gegen Ende für zusammenhanglos in den Raum gestellte, banale Wortspielereien zur britischen Premierministerin Theresa May oder einen ebenso unnötigen Exkurs zu den exzessiven Studentenjahren ihres Vorgängers David Cameron.
Manches ist unnötig, anderes bleibt unklar in diesem mit Musik, Tanz und Videobildern angereicherten Schauspiel, das narrative Elemente auf ein absolutes Mindestmaß reduziert. Dafür rückt das Geschlechterthema, für das „Orlando“ nicht zuletzt berühmt ist, erst spät in den Vordergrund. Immerhin dann auf durchaus interessante Weise, wenn Pascal Thomas mehr und mehr in die Rolle einer Frau schlüpft, irgendwann High Heels und Minirock trägt, und die mit ihrer Identität ringende junge Nell (Johanna Malecki) von der „Schönheit des Androgynen“ zu überzeugen versucht. Von Dialogen wie diesem hätte dieser Theaterabend mehr vertragen, der trotz vieler kreativer und überraschender Momente einfach zu viele unterschiedliche Tonlagen anschlägt, um letztlich zu überzeugen.
ZUR PERSON
Die in London geborene Virginia Woolf (1882-1941) zählt zu den einflussreichsten feministischen Autorinnen der Weltliteratur und zu den Vorreiterinnen der literarischen Moderne. Ihre Texte gaben der Frauenbewegung in den 70er Jahren wichtige Impulse, auch der Roman „Orlando“, in dem die Schriftstellerin sich spielerisch mit den Geschlechterrollen auseinandersetzte. Eine bekannte Verfilmung des Romans entstand 1992 unter der Regie von Sally Potter mit Tilda Swinton in der Hauptrolle.
Björn Gauges, 25.02.2019, Gießener Anzeiger