Nach 100 Jahren erstmals wieder in Deutschland zu erleben: „Mala vita“ eröffnet Opernsaison am Stadttheater und wird mit Vokalkompositionen ergänzt
Ein junger Färber, sichtlich gezeichnet von schwerer Krankheit, wohl Tuberkulose, einer typischen Arme-Leute-Krankheit. Und auch die bei der Arbeit verwendeten Chemikalien in seiner Werkstatt dürften der Gesundheit abträglich sein: Blut spuckt er ins Taschentuch, das Gesicht ist eingefallen. Die Umstehenden klagen und beten, Vito – so heißt der Mann – muss weinen. Veristischer, „wahrer“ kann ein Opernanfang, den auch die Musik in überdeutlicher Emotionalität malt, nicht sein (siehe Kasten). Plötzlich aber treten aus der Bühnenrückwand sechs Gestalten in Renaissancekostümen, die Handlung friert ein, und wie der Zeit enthoben und von nachgerade ätherischer Schönheit entfalten sich im Raum die österlichen Klänge des Responsoriums „Caligaverunt oculi mei a fletu meo“ („Dunkel sind meine Augen vom Weinen“). Schärfer könnte dieser Kontrast kaum sein – aber passender konnten die gegensätzlichen Musikwelten kaum ausgesucht werden.
Zwei Besonderheiten
Die erste Opernpremiere dieser Spielzeit am Gießener Stadttheater wartete am Samstag mit großem Erfolg gleich mit zwei Besonderheiten auf. „Mala vita“, die erste Volloper des italienischen Komponisten Umberto Giordano (1867 – 1948), ist eine echte Wiederentdeckung: 1892 in Rom uraufgeführt und dann auch in Berlin und anderen Städten gespielt, verschwand das Stück nach kurzer Zeit gänzlich von den Spielplänen. In Deutschland ist es jetzt erstmals seit über 100 Jahren wieder zu hören – und das lohnt sich! Das zweite ist die Kontrastierung der äußerst konzentrierten, nur gut siebzig Minuten dauernden Oper mit sechsstimmigen Vokalkompositionen von Carlo Gesualdo (1566 –1613). So überraschend diese Kombination zunächst scheint – und der Rezensent war eher skeptisch, wie er an dieser Stelle zugeben muss –, als so ertragreich stellte sie sich heraus. Wer die Idee dazu hatte, war nicht mehr genau zu klären, sie geht wohl auf den weiter erkrankten GMD Michael Hofstetter zurück. In der schlüssigen Inszenierung von Wolfgang Hofmann und unter der Leitung von Eraldo Salmieri wurde daraus ein spannender und in dieser Form unerhörter Theaterabend.
Die Handlung ist rasch erzählt. Vito, der Färber, ist an Tuberkulose erkrankt. Gedrängt durch die zu abergläubischer Volksreligiosität neigenden Menschen in seiner Umgebung, legt er das Gelübde ab, eine Prostituierte zu heiraten (und damit zu „retten“), um im Gegenzug durch Gott von seiner Krankheit geheilt zu werden. Diese Prostituierte ist Cristina, die erst ungläubig, dann überglücklich ist. So richtig von Dauer ist das Ganze aber nicht; schon beim ersten Treffen mit seiner eigentlichen Geliebten (und Gattin seines Kumpels Annetiello), Amalia, kehrt er in deren Arme zurück. Es kommt zu einer eher unerfreulichen Begegnung der Rivalinnen. Der letzte Akt verdeutlicht, worum es eigentlich geht: Die Bevölkerung verbindet beim „Piedigrotta“-Fest (ein neapolitanischer Brauch) Volksfrömmigkeit und Suff. Vor dem Hintergrund der fröhlichen Gesänge trennt sich Vito von Cristina – und gibt damit seine flüchtige Bußanwandlung endgültig auf. Cristina kehrt ins Bordell zurück.
An Scharnierpunkten der affektiven Befindlichkeiten kommen nun die Gesualdo-Sänger ins Spiel. Die Wirkung ist frappierend: Völlig überraschend folgt auf die überbordend emotionale, emphatisch ausgreifende Musik im hochdramatischen Gesang so etwas wie ein Kommentar durch die affektgeladene, extrem chromatische, aber zugleich gleichsam „reine“ Vokalität. Alle Partien des Abends waren dabei sehr gut besetzt, bis in die Nebenrollen hinein. In der Rolle der Cristina debütierte Angela Davis in Gießen, spielerisch bewältigte sie die hohe Dramatik ihrer Partie, dabei gänzlich ebenbürtig ihrer Antagonistin Amalia, gesungen mit glänzender, expressiver Klarheit von Vero Miller. Der Tenor Denis Yilmaz als Vito, ebenfalls erstmals in Gießen, konnte durchaus ebenfalls überzeugen; für das relativ kleine Haus hätte er vielleicht mit etwas weniger Druck auf der Stimme auskommen können.
Herausragend in jeder Hinsicht war aber das Gesualdo-Sextett unter Leitung von Jan Hoffmann – eine Meisterleistung an Intensität und Schönheit. Außerdem greifen die Figuren zunehmend ins Geschehen ein, kommentieren nicht nur, sondern lenken die Figuren, legen ihnen die Worte in den Mund. Dabei stehen die beiden Musikarten einander agonal gegenüber, wie in einem Wettstreit darüber, welche Musik die höhere Ausdrucks-Wahrhaftigkeit erreichen kann. Die sozusagen äußerliche Theatralität der veristischen Musik konkurriert mit der sublimiert innerlichen Gesualdos. Vielleicht geht es sogar um echte und oberflächlich-abergläubische Religiosität.
Aber Vorsicht: Gesualdo, der mehrfache Mörder, ist nicht unbedingt ein geeigneter Gewährsmann für Pietät. Und Regisseur Hofmann lässt nicht einfach Affekte verdoppeln (zum Liebesduett Vito/Cristina etwa Gesualdos „T’amo mia vita“ / „Ich liebe dich mein Leben“) – hintergründig, oder geradezu bösartig wird es, wenn „Tristis est anima mea“ („Meine Seele ist betrübt“) buchstäblich als Deckmantel zur Kopulation von Vito und Amalia dient.
Verbindung zweier Welten
Das Bühnenbild (Lars Peter) spiegelt sehr genau die zwei Welten, die da komplementär zusammenkommen. Die „Pietà“ von Jusepe de Ribera bildet den Hintergrund für die sachlich abstrakte Bühne der Gegenwartshandlung in Neapel – zugleich wird sie von dieser Moderne buchstäblich im Rahmen gehalten. Völlig getrennt sind die Welten nicht, so wie auch die Handelnden (in Alltagskleidung der letzten paar Jahrzehnte; Kostüme: Claudia Krull) durch die Renaissance-Gestalten unterwandert werden.
Der Abend war in jeder Hinsicht ein Genuss. Auch das Orchester unter der Leitung von Salmieri spielte in glänzender Form, differenziert, konzentriert, feinfühlig, aber auch klangvoll und prächtig im passenden Moment. Gleiches gilt für den Chor. Salmieri ist genau der richtige Mann für dieses Stück, er kann grelle Farben genauso wie zurückhaltende Töne modellieren. Das Publikum dankte mit begeistertem Applaus.
Karsten Mackensen, 17.09.2018, Gießener Anzeiger