Ausgedehntes Sinfoniekonzert des Gießener Philharmonischen Orchesters im Stadttheater: Moritz Eggert überzeugt weder als Dirigent noch als Komponist
Das Beste kommt bestimmt zum Schluss, so dachte man sich während des ausgedehnten Konzerts des Gießener Philharmonischen Orchesters am Dienstag unter Leitung von Moritz Eggert, aber diese Hoffnung erfüllte sich mit dessen eigener Komposition dann doch nicht.
„Puls“, ein Stück aus dem Jahr 2011, ist im Kern zwar um eine gute Idee herum gebaut – indes fehlt es an Substanz, an Entfaltung, ja, an Originalität, ganz zu schweigen von der Kapazität, wirklich einen dramaturgischen Schlusspunkt unter ein Konzert zu setzen, das Kompositionen von Schwergewichten wie Erik Satie und Hans Werner Henze enthält. Konzept von „Puls“ ist ein spürbar körperlicher, das ganze Stück unerbittlich und wie ein Lebensfaden durchziehender Beat, ein Pulsschlag also im eigentlichen Sinne, an dem entlang eine Art klanglicher Lebensgeschichte sich entspinnt. Musikalisch ist das eher eklektisch als organisch; zu äußerlich sind die Effekte von militärischer Rührtrommel über Sphärisches à la Mike Oldfield bis zu Strawinskij-Reminiszenzen. Plakativer Schluss: Die Beatmungsmaschine läuft röchelnd aus, das EKG bleibt auf dem aus jedem Krimi bekannten postmortalen Sinuston hängen.
Die Entscheidung, dieses Stück an den Schluss zu stellen, ist unmittelbarer Ausdruck von Eggerts irritierender Selbstbezüglichkeit, die er als eine Form des entspannten Herangehens an klassische und speziell Neue Musik verkauft. Das gehört zu seinem Image, Eggert ist ja einigermaßen berühmt, spätestens seit er die Musik zur Eröffnung der Fußball-WM 2006 schreiben durfte. Mag das Vermittlungsanliegen im Kern begrüßenswert sein, so wird der 53-Jährige dem doch eklatant nicht gerecht, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen drückt sich in der vermeintlich lockeren Art (nicht zuletzt seiner Moderation) eine rechte Blasiertheit aus: Entweder hält er sein Publikum für senil oder für geistig unterprivilegiert – oder vielleicht beides –, wenn er im Jahr 2019 tatsächlich noch zu erklären müssen meint, was wohl ein Viertelton ist. Mikrotonalität spielt nämlich eine Rolle in Claus Kühnls Komposition „Geheimes Wort“ von 2011, einer düster-melancholischen Kammermusik über einen liegenden Klang, der den Hintergrund für punktuelle musikalische Ereignisse individueller Instrumente bildet.
Gravierender ist aber Eggerts unzulängliche Leistung als Dirigent. Großspurige Bewegungen alleine vermitteln eben keine musikalische Qualität; seine Gesten bleiben der Musik äußerlich, sie haben keine gestalterische Kraft, auch wenn er noch so sehr hüpft und tanzt oder die Handgelenke in die Ecken der Schlagfiguren schleudert. Und da, wo er „Schutzmann“ spielt, die Musik also über klare Schläge zusammenhält, bleibt die Musik zäh.
Zwei Stücke des Abends immerhin konnten Eggerts Dirigat zum Trotz ihre Eigenqualität entfalten. Das gilt für Henzes „Fandango“ aus dem Jahr 1985, eine rhapsodische Orchesterfantasie über eine alte Vorlage von Antonio Soler. Dieser Tanz gelang stellenweise fast mitreißend; wo aber Henze seinerseits ganz unüberhörbar Strawinskij aufruft, rutschte es ins Zirkushafte ab. Richtig gut war dann vor allem das Stück, das am wenigsten in die Dramaturgie passte, nämlich Modest Mussorgskijs „Nacht auf dem Kahlen Berge“, und zwar gespielt in der rauen, wirklich wilden und ungeglätteten Originalfassung von 1867 (also nicht in der Bearbeitung von Rimski-Korsakow). Da kam das Orchester in Fahrt, das Orgiastische dieser Musik entfaltete sich wie von selbst.
Gleichwohl hätte die Probenzeit scheints effizienter genutzt werden müssen, weniger wäre angesichts des anspruchsvollen Programms mehr gewesen. Erkennbar unterprobt war das originellste Stück des Abends, Erik Saties Musik zum Ballett „Relâche“ (1924). Der feine Witz, die federnden Nuancen, die Übergängigkeit zwischen Parodie und kunstvollster Musik blieben im ungelenken Dirigat stecken, statt Humor und Leichtigkeit gab es Mühsal und Arbeit. Sonderbar steif kam auch Wilhelm Killmayers „Nachtgedanken“ von 1973 daher – immerhin ein Werk von Eggerts früherem Kompositionslehrer. Dessen Musik hat er damit nicht unbedingt einen Gefallen getan.
Karsten Mackensen, 18.04.2019, Gießener Anzeiger