Rhythmen, Sätze und singende Pinguine: Premiere der Inszenierung „De Rerum Natura“ auf der taT-studiobühne
Wie aus dem Nichts wird ein Tischtennisball auf die Bühne geschossen. Weitere Zelluloidkugeln folgen. Einige treffen dabei auf Instrumente, lassen Krach entstehen und die Zuschauer aufschrecken. Erst jetzt erscheinen die Schauspieler, die umgehend mit kleinen Holzstäbchen rhythmische Schläge erzeugen, die von nun an die Performance begleiten werden.
Ein ungewöhnlicher, überraschender Auftakt der Inszenierung „De Rerum Natura – Zufällige Abweichungen“, mit der das Regie-Duo Glogowski & Hoesch das Publikum in der taT-Studiobühne zu einer turbulenten Erkenntnisreise einlädt. Dabei lassen die beiden ehemaligen Studenten der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen ihr Publikum auf den Spuren des antiken Dichters Lukrez wandeln, der in einem Lehrgedicht die sogenannte „Naturtheorie“ verfasst hat. Diese basiert auf der Annahme, dass allein Atome sowie der unendliche, leere Raum existent sind. Alles andere unterliege einem steten Wandel. Denkt man diesen Ansatz zu Ende, führt er zu der Erkenntnis, dass es in unserer Umwelt (oder in unserem Dasein) keine dauerhaften Formen gibt – ja nicht einmal die Welt an sich selbst greifbar ist. Und genau an diesem Punkt setzen die Regisseure an: Alles Wahrnehmbare unterliegt der Veränderung.
Damit die Zuschauer diesem komplexen Sachverhalt über die gesamten 80 Minuten Spielzeit folgen können, wird immer wieder für Auflockerung gesorgt – singende Pinguine und sprechende Maden finden ihren durchaus amüsanten Platz auf der Bühne. Vor allem aber regen immer wieder unterschiedlichste Performance-Elemente zu eigenen Deutungen an. So wird etwa ein halbseidener Vorhang von Zeit zu Zeit ohne ersichtlichen Grund mechanisch vorgezogen – ohne Einordnung in das restliche Geschehen. Auch der Umgang der Schlagzeugerin Špela Mastnak mit ihrem Instrument irritiert. Wie Arztbesteck liegen die Schlägel und Besen auf einem Tisch neben dem Instrument aufgereiht, gleichzeitig scheinen die Trommelfelle damit zunächst eher liebkost zu werden. Tönen die Schläge dann härter, werden die Trommeln – fast wie zur Strafe – eine nach der anderen entfernt und die Formation aufgelöst.
Mit einfachen Mitteln entstehen bei dieser „Raumkomposition“ immer wieder völlig neue Situationen. Mal sprechen die Schauspieler Paula Schrötter und Magnus Pflüger mit eigener Stimme, mal eilt das Echo dem danach gesprochenen Wort voraus. Geraten die Stimmen durcheinander, wird daraus eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten. Das ist charakteristisch für das komplette Stück: Sobald man glaubt, eine Ordnung hinter den Dingen erkannt zu haben, wird diese durchbrochen und durch eine neue ersetzt. Als Fazit bleibt: Dies ist „die Natur der Dinge“. Für das Verständnis besonders hilfreich ist der dramaturgische Bogen. Er sorgt dafür, dass das Publikum mit der Interpretation des Gesehenen – und Gehörten – nicht allein gelassen wird. Es darf sich durch die Worte der Schauspieler, die selbst wie Lernende wirken, an die Hand genommen fühlen.
Auch werden die Sinne durchgehend von unterschiedlichsten Lichteffekten angesprochen. Beispielhaft dafür ist eine Szene, in der das Publikum so intensiv durch Scheinwerfer geblendet wird, dass es außerhalb des Lichtstrahls nichts mehr erkennen kann. Die Anwesenheit der Schauspieler ist dennoch spürbar. „Aus dem Dunkel heraus vermögen wir Dinge aus dem Licht zu sehen“, rezitiert eine körperlose Stimme. Unwillkürlich fühlt man sich dabei beobachtet. Langsam machen sich Zweifel an der eigenen Wahrnehmung breit. Einige Leute halten sich die Hand vor Augen, in der Hoffnung wieder mehr sehen zu können. Nachdem das Licht letztmals erlischt, zollt der lang anhaltende Applaus den erschöpften, aber sichtlich glücklichen Mitwirkenden (Gesang: Marcus Licher) die verdiente Anerkennung.
„De Rerum Natura“ bietet zum einen vage Andeutungen aktueller Gesellschaftskritik, vor allem aber assoziative Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen.
Jule Lotz, 16.04.2019, Gießener Anzeiger