Ivana Sajko inszeniert eine Bühnenadaption ihres Romans in Gießen / Ein Gespräch über den Krieg, Kroatien und die Zukunft
Ivana Sajko gilt manchem Kritiker als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Südosteuropas. Umso bemerkenswerter, dass die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin nun für das Stadttheater Gießen gewonnen werden konnte. Die Kroatin inszeniert ihr 2006 erschienenes Buch „Rio Bar“ auf der taT-Studiobühne selbst. Es ist die Geschichte einer einsamen Frau, die in der titelgebenden Bar sitzt, trinkt und schreibt – über den Krieg, ihre zerstörte Beziehung und eine sich bedrohlich verändernde Gesellschaft. Premiere feiert das Stück am Donnerstag, 10. Januar (20 Uhr). Im Interview spricht Ivana Sajko über „Rio Bar“, die Zukunft und das Drama Kroatiens.
Frau Sajko, Sie inszenieren Ihren Text „Rio Bar“ in Gießen und arbeiten damit erstmals als Regisseurin an einem deutschen Stadttheater. Wie sind Sie die Sache angegangen?
Ich kam einfach mit dem Buch unter dem Arm. Ich kannte hier zuvor niemanden, nicht die Stadt, keinen der Schauspieler. Niemanden. Ich wusste nur: Meine Übersetzerin Alida Bremer war Dozentin an der Uni, an der es eine großartige Theaterausbildung gibt. Heiner Goebbels arbeitet hier. Und aus Gießen kommen einige bekannte Regisseure, die dieses supersuper-postdramatische Theater machen (lacht). Das ist mir sehr nahe. Aber hier im Stadttheater ist das natürlich etwas anderes. Also musste ich erstmal alles kennenlernen. Und gemeinsam mussten wir herausfinden, mit was, mit wem wir in diesem Roman etwas zu tun haben. Meine Ausgangsfrage war: Wie können wir das Buch heute in Deutschland lesen?
Was haben Sie dabei herausgefunden?
Auf der einen Seite ist es eine Art Liebesgeschichte. Auf der anderen Seite geht es um die besondere Gemengelage, in der sich die Erzählerin befindet. Die Bar ist eine Metapher für die sich verändernde Gesellschaft. Dort treffen Menschen aufeinander, mit ihren kleinen Frustrationen, mit ihren gescheiterten Biographien, mit ihrer Verbitterung – eine komplexe Gefühlslage. Und es gibt die Gefahr der Manipulation, der Suche nach jemandem, auf den man die Schuld für die eigene Lage abwälzen kann.
Welche Rolle spielt der kroatische Krieg in Ihrer Inszenierung?
Er ist nicht entscheidend. Kriege sind Kriege. Ich wollte hier herausfinden: Wenn wir alles, was mit dem Krieg in Kroatien verbunden ist, aus dem Stück draußen lassen, was bleibt dann übrig? Es geht also um die Konstruktion von Konflikten, wie wir damit umgehen und wie wir friedlich zusammenleben können. Die Frau in der Bar fürchtet, etwas Furchtbares könnte passieren, könnte wieder passieren. Sie ist wie eine Kassandra in den griechischen Tragödien, der niemand glaubt. Mein erster Satz, den ich nach Gießen mitbrachte: Der Krieg ist kein Trauma aus der Vergangenheit, er ist ein Trauma aus der Zukunft.
Wie sehen Sie die Lage nach dem Krieg in Kroatien, in Ex-Jugoslawien heute?
Ich spüre, dass sich die Gesellschaft dort verändert hat, die Medien, die Sprache. Ich hoffe, ich liege da falsch, aber für mich sieht es so aus, als wäre die Region, wie Polen, wie Ungarn, eine Art negative Avantgarde, die Dinge vorwegnimmt, die auch anderswo in Europa drohen. Populismus, Radikalisierung. Dinge, die vor 30, 40, 50 Jahren geschehen sind, werden von der heutigen Politik vereinnahmt, um die Gesellschaft zu spalten. Wie kann das geschehen? Ich beobachte, wie die Leute plötzlich ihre Nachbarn anschauen, wie das Misstrauen wächst – und plötzlich bemerkt man, dass der Boden für etwas Schlimmes bereitet ist. Das heißt nicht, dass es so kommen muss. Aber es könnte so kommen.
Wenn wir also Pech haben, blicken wir Ihrer Ansicht nach mit „Rio Bar“ in eine negative Zukunft?
Ja, der Text ist wie eine Linse, durch die man schaut. Ich glaube, es ist gut, solche künstlerischen Formen der Warnung zu haben.
Was ist die Erzählerin für eine Person?
Sie hat Ideale, sie glaubt an die Gleichheit, und auch an das Recht, als Fremde in dieser Bar zu sein – und sich zu betrinken (lacht). Doch sie muss kämpfen, denn sie ist die einzige dort, die mit ihren Ansichten richtig liegt. Die größte Tragödie in Kriegen und politischen Konflikten ist es, wenn du herausfindest, dass du zu schwach bist, um dich wehren zu können. Denn natürlich ist nicht jeder von uns ein Held, dazu sind wir Menschen einfach nicht gemacht. Wir wollen unsere Familien schützen, das ist alles.
Und der Schauplatz des Stücks könnte überall sein?
Überall, auch in Gießen.
Gibt es denn hier vielleicht auch eine Rio Bar?
Jede Stadt hat ihre Rio Bar. Es gibt überall Plätze, wo die Leute zusammenkommen, wo diese Magie entsteht, wenn verschiedene Personen und Geschichten aufeinandertreffen. Aber es sind auch die Orte, an denen individuelle Veränderungen als erstes sichtbar werden. Wir können das fühlen. Ich fühle das auch in Berlin, etwa im öffentlichen Nahverkehr.
Wird es schlimmer, aggressiver?
Ja. Wir leben in einer Zeit, in der die Differenzen stärker hervortreten, als der Wunsch nach Zusammenhalt, nach Einheit. Dabei erwarten die Kinder, die Jugendlichen doch etwas ganz anders von uns. Mein Sohn ist sieben, hat eine kroatische Mutter, einen italienischen Vater, lebt in Berlin. Aber die Unterschiede sieht er nicht, die sind ihm egal. Es wäre ein Jammer, das zu verlieren. Wir müssen für den Zusammenhalt der Gesellschaft kämpfen – und für die Zukunft der Jugend.
Wie waren die Reaktionen, als Sie „Rio Bar“ 2006 in Kroatien veröffentlicht haben?
Sehr gut, es gab Auszeichnungen, das Buch war erfolgreich.
Ein gutes Zeichen?
Ich wollte damals ein Buch schreiben, ohne eine bestimmte Seite zu beziehen. In jedem Krieg denken die Menschen, sie stehen auf der richtigen Seite. Und genau das ist die Tragödie. Aber ein solcher Konflikt kann nicht simpel beschrieben werden. Je mehr wir wissen, umso mehr sehen wir, wie viele verschiedene Faktoren darauf einwirken.
Der Krieg ist seit mehr als 20 Jahren vorbei, wie geht es den Kroaten heute?
Ich beobachte einen starken Widerwillen gegen die politisch Mächtigen. Viele haben Angst um die eigene Existenz, es gibt viel Armut, die man nicht sieht, wenn man an der Küste Urlaub macht. Aber 50 Prozent der jungen Leute sind arbeitslos. Viele verdienen 600 Euro, bei Lebensmittelpreisen, die höher sind als in Deutschland. Wie soll man davon leben?! Viele Gebildete gehen ins Ausland. Allein 500 000 registrierte Kroaten sind in den vergangenen drei Jahren nach Deutschland gekommen. Das Land hat knapp eine Millionen Einwohner verloren, es ist eine zutiefst deprimierende Atmosphäre. Es gibt dort einfach nichts zu tun.
Haben Sie Hoffnung auf Besserung?
Keine Ahnung. Die Opposition scheint zu wachsen. Andererseits hat die Mehrheit einfach keine Zeit, sich politisch zu engagieren, die Leute müssen sich ums Überleben kümmern. Und viele engagierte Menschen fühlen sich zutiefst hilflos. Sie merken: Was du auch tust, es findet kein Echo in der Gesellschaft. Das macht einen verrückt! Es läuft etwas zutiefst falsch.
Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.
ZUR PERSON
a Ivana Sajko , 1975 in Zagreb geboren, ist eine kroatische Schriftstellerin, Dramaturgin und Theaterregisseurin, deren vielfach ausgezeichnetes Werk nicht nur in ihrer Heimat, sondern vor allem auch in Deutschland große Beachtung findet. „Rio Bar“, 2006 erschienen, war ihr erster Roman. Darin erzählt eine Frau „in acht Monologen“ von den gesellschaftlichen Folgen des Kroatienkriegs, den das kleine Land nach dem Zerfall Jugoslawiens zwischen 1991 und 1995 führte, um sich vom serbischen Nachbarn abzuspalten. Und es ist die Geschichte einer Frau, die ihren Mann verloren hat und nun einsam in einer Bar sitzt, um die Vergangenheit zu verstehen und nach der Zukunft zu suchen. In der Rio Bar und diesem assoziaviten, vielschichtigen Text verschmelzen ihr inneres und das äußere Drama zu einer literarischen Einheit. Ivana Sajko lebt mit ihrem Sohn in Berlin.
Björn Gauges, 04.01.2019, Gießener Anzeiger