Sieben starke Rollen für sieben starke Schauspieler: Mit der Verbrecherballade »Johnny Breitwieser« gelingt im Stadttheater Regisseur Malte C. Lachmann und seinem Team der große Wurf.
Ein Berg aus Trümmerteilen beherrscht die Bühne. Auf ihm, in ihm und um ihn herum kämpfen Menschen ums nackte Überleben. Geschundene Kreaturen mit geschundenen Seelen. Es ist die Zeit um den Ersten Weltkrieg in Wien, doch eigentlich könnte sich diese Geschichte so oder ähnlich überall und jederzeit abspielen. Denn was der österreichische Dramatiker Thomas Arzt in seiner Verbrecherballade »Johnny Breitwieser« erzählt, zeigt, was auch uns erwarten kann, wenn die Welt aus den Fugen gerät.
Bühne als Trümmerlandschaft
Udo Herbster hat diese Bühne aus Trümmerteilen entworfen. Ein wahres Drecksloch in Graunuancen, das aber gerade deshalb die ideale Fläche für die Geschichte bietet, die mit drastischen Worten, roher Gewalt und reichlich Blut und Dreck erzählt wird. Allerdings garniert von zuckersüß-poppiger Musik, gespielt vom hinter einer Gazewand platzierten Salonorchester mit vier Streichern und Percussion. Die elf Songs, die der kalifornische Popkomponist Jherek Bischoff geschrieben hat, singen die Schauspieler (musikalische Leitung: Martin Spahr). Von musicaltypischer Unbeschwertheit ist das weit entfernt: Es geht um Leichenzüge, das Wehklagen in den Schlachtgräben, ums bloße Überleben. Mit Choreograph Tiago Manquinho haben die Schauspieler dazu eine ganz eigene Körpersprache entwickelt. Wie unter Peitschenschlägen zucken sie, verrenken sich als Zeichen ihrer inneren Pein.
Rohe Gewalt und blankes Elend
Die Kostüme sind mit Blut und Ruß verschmierte Lumpen, die Zähne verfaulte Stummel, die Körper verkrüppelt. Regisseur Malte C. Lachmanns Inszenierung ist nichts für zarte Gemüter, aber gerade darum auch so eindringlich. Das Publikum sieht und hört nicht nur zu. Es riecht sogar die Pistolenschüsse, den Qualm und den Mief, in dem die Figuren überleben müssen.
Aus dem Volk der Geschundenen und Hoffnungslosen ragt Titelfigur Johnny Breitwieser als »Gott der Armut« hervor. Der charismatische Bankräuber und Ausbrecherkönig, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, die Frauen verführt und bis zu seiner unausweichlichen Erschießung ganz im Jetzt agiert, ist mit Lukas Goldbach ideal besetzt. Mit seinem schelmischen Charme macht er nachvollziehbar, warum dieser Johnny solche Wirkung auf seine Gefolgsleute haben konnte. An seiner Seite überzeugt David Moorbach als Johnnys Bruder Carl, der erst den Frauen die ungewollten Kinder aus dem Leib schneidet und später den Kriegsversehrten die Gliedmaßen amputiert. Ob mit Beinprothese, in lächerlicher Frauenverkleidung oder im Falsett im Schützengraben singend – dem Neuen im Ensemble gelingt ein beeindruckender Einstand. Auch Johanna Malecki, die Breitwiesers Geliebte Greta spielt und ebenfalls neu am Theater ist, überzeugt als Lebedame und gelangweilte Witwe mit großer Präsenz. Anne-Elise Minetti spielt Johnnys große Liebe Anne voller Inbrunst und unfassbarer Leidensfähigkeit. Ebenso intensiv ist das Spiel von Paula Schrötter, die mit Hinkefuß und vernarbtem Auge die ewig drängende Luise aus dem Volk verkörpert. Tom Wild ist der leicht tumbe Polizist, der Johnny zu fassen versucht und Stephan Hirschpointner der charakterschwache Gefolgsmann Wenzl.
Räudiges Musical
Malte C. Lachmann gelingt es mit seiner Inszenierung der rasanten Verbrecherballade die Assoziationen zur »Dreigroschenoper«, die »Johnny Breitwieser« unweigerlich weckt, schnell vergessen zu machen. Dieser Johnny hat am Gießener Stadttheater als deutsche Erstaufführung, eine ganz eigene Qualität zu bieten. Das »räudige Musical« entlässt seine Zuschauer nach gut zwei faszinierenden Stunden nicht nur mit dem Gestank der Hölle in der Nase und eingängigen Melodien im Ohr. Es regt zum Nachdenken an: Wie würde ich mich verhalten? Was kann ich tun, damit es heute nicht mehr so weit kommt? Mehr kann man von einem Theaterstück eigentlich kaum erwarten.
Reale Vorlage: Johnny gab es wirklich
»Johnny Breitwieser« liegt eine reale Biografie zugrunde: 1891 wird Johann Breitwieser in der Wiener Vorstadt in miserable Verhältnisse geboren. Früh wird der Kleinkriminelle zum »Meidlinger Einbrecherkönig«, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. Mehrmals entkommt er scheinbar mühelos aus polizeilichem Gewahrsam und operiert erfolgreich aus dem Untergrund. 1919 wird er von der Polizei erschossen und vom Volk zum Märtyrer erkoren.
Karola Schepp, 03.09.2018, Gießener Allgemeine Zeitung