Rebekka Kricheldorf erzählt in »Villa Dolorosa« von drei missratenen Geburtstagen frei nach Anton Tschechows »Drei Schwestern«. Thomas Goritzki hat Letzteres schon 2008 am Stadttheater Gießen inszeniert. Nun setzt er Kricheldorfs aktuelle Adaption auf derselben Bühne um – als unterhaltsam tragikomischen Parforceritt.
Man müsste eigentlich eine Strichliste führen. Ein Strich für jedes Mal, wenn das Wort »öde« fällt. Denn öde ist das Leben der Schwestern Olga, Mascha und Irina. Und sie werden nicht müde, zu betonen, dass dem so ist. Doch etwas daran ändern, dazu fehlt ihnen der Mut. Leerlauf ist ihr Lebensprinzip geworden. So ähnlich hat es Anton Tschechow 1901 in seinem Stück »Drei Schwestern« beschrieben. Und so ähnlich tut dies Dramatikerin Rebekka Kricheldorf etwas mehr als 110 Jahre später in ihrem Stück »Villa Dolorosa«, frei nach Tschechow.
Dass eine Neuauflage der Sinnsuch-Thematik und eine zeitgemäße Fassung eines Bühnenklassikers nicht überflüssig oder gar öde sein müssen, zeigt nun Thomas Goritzki mit Kricheldorfs Tragikomödie im Stadttheater. Dank der sprachlich wie erzählerisch glänzenden Vorlage, und dank seines guten Gespürs für Timing und Dynamik, wird diese »Villa Dolorosa« trotz satter drei Stunden Aufführungsdauer für das Publikum keineswegs zum Kreuzweg, sondern zum höchst vergnüglichen Erlebnis dreier gründlich »missratener Geburtstage«.
»Highway to Mittelmaß«
Die feiern nämlich im Jahresabstand die drei, ausgerechnet den Nachnamen Freudenbach tragenden Schwestern: Olga, eine frustrierte Lehrerin; Mascha, in einer lieblosen Ehe gefangene »Desperate Housewife«, die sich aber auch nicht traut, mit ihrer wahren Liebe Georg das Glück zu finden; und Irina, die Jüngste im Bunde, die nicht wirklich erwachsen werden will und Studienfächer wechselt wie andere ihre Kleider. Von ihren Bildungssnob-Eltern haben die drei Schwestern nicht nur ihre von russischer Literatur inspirierten Vornamen aufgelastet bekommen, sondern auch eine lebensferne Erziehung und ein marodes Haus, in dem sie mit ihrem angeblich so genialen Bruder Andrej leben. Als der die eher simpel gestrickte Janina zur Frau nimmt, geraten die Schwestern endgültig in Unwucht. Die als »Proletariatsschickse« belächelte Schwägerin schwingt sich als Bestimmerin auf und verwirklicht all das, was den Schwestern nicht gelingt. Symbolträchtig füllen Fotografien ihrer Kinder die Bilderrahmen, die die Schwestern mangels Erinnerungswertem bislang leer an den Wänden hängen hatten.
Im von Ausstatter Heiko Mönnich mit morbidem Toskanavillencharme entworfenen Bühnenbild geraten die drei Geburtstagsfeiern jedesmal zum Fiasko. Hier platzen nicht nur Luftballons, sondern auch Träume. Ein Laufband ist nicht nur Sinnbild für dieses Auf-der-Stelle-Treten, sondern auch eine feine Anspielung auf Goritzkis 2008er-Inszenierung des Originalstücks. Fotos auf dem zwischen den Akten fallenden Theatervorhang zeigen jene Erinnerungsstücke, mit denen die drei Schwestern trotz permanenter Selfie-Einlagen nicht wirklich ihre leeren Bilderrahmen füllen konnten. Musikeinspielungen aus der Oper »Tosca« machen deutlich, dass das Bühnengeschehen bei aller Komik im Grunde hochdramatisch ist.
Doch natürlich würden die drei Schwestern auch in der 2.0-Version Kricheldorfs nicht Wirkung entfalten, wenn sie nicht von drei wunderbaren Schauspielerinnen verkörpert würden. Hier ist Johanna Malecki, von der man getrost noch von einem Neuzugang im Ensemble sprechen kann, eine erfreuliche Überraschung. Ihre Irina in Prinzessinnenkleid und Pippi-Langstrumpf-Kostüm ist nicht nur voller schlagfertiger Komik und frisch-jugendlichem Charme, sondern auch hinreißend natürlich gespielt. Es macht Freude, Malecki zuzuschauen, wie sie dem kapriziösen Nesthäkchen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens Tiefe verleiht.
Anne-Elise Minetti lässt wie immer souverän die leicht unterkühlt wirkende Fassade ihrer Figur Mascha zerfallen. Wie in Schockstarre erscheint Maschas Liebesleben, bis Liebhaber Georg ihr Rettung verspricht. Doch Mascha traut sich nicht und droht daran zu zerbrechen. Carolin Weber als älteste Schwester Olga (die Original-Olga hatte sie bereits 2008 an gleicher Stelle gespielt) bringt den Zynismus der im verachteten Lehrerberuf gefangenen Versorgerin auf den Punkt. Als Olga, ihren Kummer über eine Beförderung und die Erinnerung an ihre rockigen Teenager-Träume im Alkohol zu ertränken versucht, gelingt Weber der Spagat, zwischen den gelallten komischen Sprüchen die große Verletzlichkeit dieser Frau eindringlich deutlich zu machen. David Moorbach kann als allzu netter, unbeholfen sympathischer Phrasendrescher Georg überzeugen, der von seiner Frau mit Selbstmorddrohungen in der Ehe und seiner Einsamkeit gefangen gehalten wird und doch eigentlich so viel mehr vom Leben erhofft hatte. Stephan Hirschpointner spielt überzeugend lustig den oberflächlichen Poser Andrej, der sich von seiner Janina (herrlich prollig: Esra Schreier) ohne große Gegenwehr auf den »Highway to Mittelmaß« bringen lässt.
Als sich nach drei gänzlich »un-öden« Stunden die Geschwister einig sind, dass »alles, was sein könnte, besser ist als das, was ist« und dennoch mit einem – allerdings kaum zu hörenden – »dann halt nicht!« resignieren, wirkt der Applaus des Publikums dann doch überraschend unenthusiastisch. An Stück und Inszenierung kann das eigentlich nicht gelegen haben – es mag wohl der vorgeschrittenen Stunde geschuldet gewesen sein.
Karola Schepp, 08.04.2019, Gießener Allgemeine Zeitung