Es ist ein Auftragswerk. Die erste Oper, die eigens fürs Stadttheater geschrieben wurde, meint es bitterernst mit dem Nahen Osten. Davon können Sultan, Eunuch und die misshandelte Mutter ein Lied singen.
Allah ist groß – besonders im Orient. Deshalb ruft der syrische Sänger (Ghays Mansour) im dritten Akt vom zweiten Rang aus »Allahu akbar« in den Saal. Danach nimmt sich auf der Bühne der junge Sultan von Aleppo seinen Eunuchen mit den Worten: »Öffne deine Wunden... Ich will, dass es schmerzt.« Es schmerzt. Darüber hinaus geht es um vergewaltigte Frauen, ermordete und misshandelte Männer. Um einen Zweikampf, um Macht und Ohnmacht, Liebe und Missgunst, Schwäche und Hysterie im Nahen Osten. Zum ersten Mal zeigt das Stadttheater eine Oper, die eigens für die Spielstätte am Berliner Platz geschrieben wurde: »Alp Arslan«. Die Uraufführung am Samstag wird vom nicht ausverkauften Großen Haus mit viel Beifall für alle Beteiligten bedacht.
Komponist Richard van Schoor hat ein zeitgenössisches Werk geschaffen, einen Abgesang, der mithilfe von Dissonanzen und musikalischen Effekten die Mechanismen menschlicher Gewalt beleuchtet. Der holländische Librettist Willem Bruls spricht als langjähriger Kenner der Region von einem Requiem auf die Stadt Aleppo.
Das gut 100-minütige Auftragswerk erzählt eine Geschichte zwischen Historie und Gegenwart, in der die Emotionen groß und die Politik beschwerlich erscheinen. Im Jahr 1113 kommt der erst 16-jährige Alp Arslan (zu Deutsch: der tapfere Löwe) in Aleppo an die Macht. Während der blutigen Kämpfe zwischen Christen, Türken, Kurden und Arabern versucht der junge, überforderte Sultan, zu sich selbst zu finden. Doch die Tapferkeit des tapferen Löwen geht gegen null. Sadismus heißt sein Zauberwort. Er entwickelt sich zu einem brutalen Herrscher, der im Finale vom Eunuchen Loulou, der selbst gern das Sagen hätte, erdolcht wird.
Am Ende der Oper schließt sich der Machtspielkreis. Im Prolog ist Loulou nach seiner Kastration als Knabe bis auf den Kopf in Sand eingegraben. Es dürstet ihn nach Wasser. Im Epilog dürstet es den intriganten, nun von den Gegnern der Stadt enthaupteten Loulou neuerlich...
Regisseurin Cathérine Miville spart sich in ihrer Lesart jegliche ironische Brechung. Es ist ihr bitterernst auf der Bühne. Das verleiht dem Abend eine drückende Schwere, die dem Librettisten in die Hände spielt. Seine Story voller Dramatik spricht für sich. Auch wenn die Oper einen historischen Stoff behandelt, wagt das Stück den Brückenschlag vom Mittelalter zu den heutigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und bedient so Klischees, die man womöglich gar nicht bedienen wollte.
Mivilles Personenführung bleibt rudimentär, was an der kongenialen Ausstattung von Marc Jungreithmeier liegt. Er hat die Drehbühne zu einer Schräge umgebaut, die er mit Quadern und vom Schnürboden herabfahrenden Säulen versieht, um Videoeinspielungen daraufzubeamen: zu Beginn die gleißende Wüste, dann die Altstadt von Aleppo, die syrisch-orthodoxe Kirche im zweiten Akt, ehe im Schlussdrittel die verwüstete Stätte vom Tod Alp Arslans kündet (Licht: Tim Schulten). Jungreithmeier gelingen beeindruckende Bilder. Monika Gora liefert dazu Kostüme aus Baumwolle, Seide und Leinen, die in Material und Schnitt Originalen nachempfunden sind.
Komponist van Schoor verknüpft das Spiel syrischer Musiker auf traditionellen Instrumenten mit dem Klang des Orchesters und des Chors. Seine Polyphonie und Polyrhythmik spüren den seelischen Nöten der Figuren nach. Vierteltöne haben Konjunktur. Und alle üben sich in besonderen Formen der Glissandi.
Der junge spanische Tenor Daniel Arnaldos singt eine durchdringende Titelpartie und ist auch mimisch auf der Höhe. Sein umfangreiches Gießen-Debüt gibt der in Kapstadt geborene Countertenor Denis Lakey in der Rolle des Eunuchen. Drei Oktaven, von der Baritonlage bis zum hohen A, bewältigt er mit Bravour. Altistin Rena Kleifeld hat als Großmutter des Sultans im übertragenen Sinn die Hosen an. Sie singt bis in tiefste Tiefen hinab. Mit von der Partie sind außerdem der bärenstarke Bass Tuncay Kurtoglu als sterbender Vater sowie die tadellose Marie Seidler als missbrauchte Mutter und der versierte Tomi Wendt in der Rolle des Emir von Damaskus.
Im Graben spielt das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung seines stellvertretenden Generalmusikdirektors Jan Hoffmann. Er fördert die Freitonalität der Partitur ausgereift zutage. Dissonanzen reiben sich an schroffen Akkorden. Die Glissandi (auch die der Sänger) verpuffen nicht wirkungslos. Sie verbinden die insgesamt elf Nummern miteinander. Leitmotive tun ein Übriges, sind aber nur schwer aufzuspüren. Die Arien der Männer wirken teils wie ausufernde Rezitative mit einem Schuss Deklamation.
So richtig Fahrt nimmt die Musik allerdings nicht auf. Mozarts »Zauberflöte« verfügt in etwa über so viele Kadenzen wie van Schoor Pausen in seinen »Alp Arslan« eingebaut hat. Dennoch gelingt ihm in der Kirche ein großer Moment mit einem gregorianisch anmutenden Gesang des hervorragend disponierten Stadttheater-Chors (Einstudierung: ebenfalls Jan Hoffmann).
Zu Beginn darf Gastmusiker Mathis Mayr auf dem Cello der E-Gitarre von Jimi Hendrix nacheifern. Wie heimlich ins Werk hineingeschmuggelt wirkt eine Passage aus »Romeo und Julia« von Prokofjew, ebenso erinnern einige Stellen an Hitchcocks Hofkomponist Bernard Herrmann. Auch einem seiner Vorbilder huldigt van Schoor: Skrjabin. Am Schluss, nach reichlich Sound-Geflirre, überrascht ein kleiner, stiller Dur-Akkord, um die Gehörgänge der Besucher zu beruhigen. Ansonsten verläuft die Musik, dem Wüstensujet entsprechend, immer mal wieder im Sande.
Manfred Merz, 06.05.2019, Gießener Allgemeine Zeitung