Giordano: Mala vita
Verismo, eine Mixtur aus Leidenschaft, Herzschmerz und Bigotterie – so präsentiert sich der Operndreiakter «Mala vita» von Umberto Giordano, dessen «Andrea Chénier» über den politisch schillernden Dichter der Französischen Revolution zum italienischen Kernrepertoire gehört. Nahezu ohne historische Bezüge und von rauerer Bauart ist die «Mala vita»-Handlung, in ihrer süditalienischen Dynamik entfernt an «Cavalleria rusticana» erinnernd: Der moribunde Färber Vito gelobt, um dem nahen Tod zu entgehen, die Prostituierte Cristina zu heiraten.
Als er wieder munter wird, verschieben sich die Perspektiven: Der anscheinend wundersam Gerettete fühlt sich als Retter einer «gefallenen» Frau, wird bockig und hält sie hin, zumal seine bisherige Mätresse Amalia ältere Rechte anmeldet, die Nebenbuhlerin sogar tätlich angreift. So bleibt Cristina als Opfer zurück, während Vito, ungeachtet des nicht eingehaltenen Gelübdes, weiterhin pumperlgesund dahinlebt.
Die Hure als Opfer: Die gut (oder schlecht) katholisch unterfütterte Pointe wird in der Gießener Inszenierung von Wolfgang Hofmann drastisch ausgespielt. Vito leidet, Cristina stirbt auf einem Altar in Bühnenmitte. Aber auch die fatale sexuelle Vereinigung Vito-Amalia geschieht als blasphemisch-sakrale Aktion auf diesem katafalkartigen Tisch. Dieser steht auf einem Rundpodest, um das sich der Chor anfangs wie eine oratorische Formation versammelt; das Ganze wird beherrscht von einem gewaltigen Kruzifix (Bühnenbild: Lars Peter), von dem nur die Beine bis zu den genagelten Füßen für die Zuschauer sichtbar sind. Das Geschehen wird gleichsam von einer numinosen Übergröße beherrscht.
Die Musik ist guter italienischer Standard; bemerkenswert auch der hohe Choranteil und eine (in Gießen nicht unterschlagene) temperamentvoll-neapolitanische Tanzszene. Dennoch war es eine ingeniöse Idee, sie zu «hybridisieren» – durch Einfügung einiger Gesualdo-Madrigale, die Chorleiter Jan Hoffmann mit sechs A-cappella-Solisten einstudiert hatte. Die Renaissancegesänge griffen dabei immer wieder verblüffend passgerecht Stichworte und Situationen der Oper auf, kommentierten Lust und Leid verfremdend-einfühlsam. Schockierend komisch hätte etwa das Gethsemane-Madrigal («Meine Seele ist betrübt bis in den Tod») zum Koitus-Ritual wirken können, zumal einige Sänger immer wieder voyeuristisch ihre Blicke auf das unzüchtige Treiben lenkten. Doch die milde Schönheit der älteren Musik erzeugte keine krassen Brechungen, eher eine leicht mystische Stimmung. Das Sextett, auch ein bisschen an den gestorbenen Meistern in Pfitzners «Palestrina» oder den Brecht’schen Sezuan-Göttern orientiert, mischte sich geisterhaft unbefangen unter die veristischen Akteure und sekundierte ihnen gelegentlich mit Handreichungen. Ein knalliger, etwas trivialer Verismo driftet ins sanft-Hintergründige.
In Gießen diesmal also nicht nur eine veritable Opernausgrabung, sondern eine geglückte Montage von Marthaler’scher (oder womöglich ganz vorbildloser) Poesie. Dazu gekonnte sängerische Leistungen: Deniz Yilmaz mit kaum angestrengtem Turiddu-Tenor als Vito; Angela Davis als lyrisch anrührende Cristina, Vero Miller als gleißend raumgreifende Amalia. Eraldo Salmieri dirigierte mit festem Zugriff.
Hans-Klaus Jungheinrich, Opernwelt, November 2018