Da können auch die im Publikum verteilten Wasserflaschen nicht helfen: »Panikherz« im taT ist mit zweieinhalb Stunden ohne Pause eindeutig zu lang. Aber es ist der Kracher der Spielzeit.
Die Zuschauer bekommen Backstage- Pässe zum Umhängen. Schauspieler verteilen Wasserflaschen zum Durchhalten. Und das Publikum sitzt in Blöcken verteilt, blickt auf Podeste und einen leeren Zuschauerraum als Prospekt im Hintergrund. Regisseur Jan Langenheim bringt sein Publikum dahin, wohin Benjamin von Stuckrad-Barre um jeden Preis hin wollte: auf und hinter die Bühne, zu Sex und Drugs und Rock’n’Roll. Wo das Leben nicht spießig ist und die Extase Alltag. Eine »Oase des Wohllebens« – aber auch der Anfang allen Übels.
Benjamin v. Stuckrad-Barres Leben
In seinem 2016 erschienenen autobiografischen Roman »Panikherz« erzählt der Popautor von seinem Absturz: vom Aufwachsen im Pastorenhaushalt in der Provinz, der schwierigen Schulzeit in Göttingen, dem Aufstieg zum gefeierten Popliteraten und Journalisten in Hamburg und Berlin bis zum tiefen Fall als Bulimiker und Junkie im Selbstvernichtungsmodus – und vom unfassbar coolen Panikrocker Udo Lindenberg, der zum skurrilen Fixstern in diesem von allerlei Süchten verkorksten Leben wird.
Aus der fast 600-Seiten-Romanvorlage werden in der Gießener Theaterfassung zweieinhalb rauschhafte Stunden, unterlegt von treibenden Beats. Thies Mynther steuert eigens komponierte Songs bei, die im Sound ein wenig kitschig die 80er und 90er Jahre aufleben lassen. Vier Schauspieler – Roman Kurtz, Pascal Thomas und die neuen Ensemblemitglieder Esra Schreier und Magnus Pflüger – spielen die vier unterschiedlichen Benjamin-Lebensphasen und Udo Lindenberg im ständigen Springen durch die Zeitebenen. Neben den Zuschauerreihen wechseln sie die Kostüme und Masken im rastlosen Takt.
Koks, Kotzen und Angst
Immer deutlicher wird im Verlauf des Spiels, dass »Stuckiman«, wie ihn sein Freund Udo nennt, von einer Sucht zur nächsten taumelt, weil er seine innere Leere füllen und endlich Ruhe in seinem hyperaktiven Kopf finden will. Der Ton, in dem die vier Benjamin-Versionen von sich erzählen, ist spröde und schonungslos. Zugleich aber auch selbstverliebt und geboren aus der Panik, als Blender enttarnt zu werden.
Regisseur Jan Langenheim, der die gleiche Göttinger Schule besucht hat wie Stuckrad-Barre, lässt an seiner Skepsis gegenüber der Reizfigur keinen Zweifel aufkommen. Dieser als Provokateur gefeierte Stuckrad-Barre ist nicht sympathisch, sondern abstoßend, eitel und maßlos – und uns dennoch erstaunlich nah. »Panikherz wirft einen immer wieder auf sich selbst zurück, auf die eigenen Erfahrungen, das eigene Scheitern, die eigenen Sehnsüchte – und jetzt sind auch die Zuschauer eingeladen, Teil des Ganzen zu werden und sich selbst genauso in diese Geschichte hineinzuprojizieren«, schreibt Langenheim im Programmheft. Ein Anspruch, den seine Inszenierung zweifelsohne erfüllt.
Udo Lindenberg als Retter
»Ganz schön speedy unterwegs« nuschelt gegen Ende Udo Lindenberg »Stuckiman« ins Ohr, als der nach Kotzen und Koksen ganz unten gelandet ist. Und »ganz schön speedy« unterwegs ist auch die Inszenierung von Jan Langenheim, die wie eine einzige Orgie in Überlänge daherkommt. Hier hätte es ein bisschen mehr Mut beim Streichen erfordert. Wenn sich Benjamin voller Versagensangst vor dem 20-jährigen Abitreffen in Dauerschleife über die erdachten Spießerlebensläufe seiner Mitabiturienten auslässt, dann will man fast schon hereinrufen: »Ja, wir haben es verstanden.« Wenn sich der Rausch durch Ecstacy und Koks im Dauertanzen zu hämmerndem Rhythmus ausdrückt, ergreifen auch schon mal vier Premierenzuschauer die Flucht. Kräftiger Beifall am Ende – auch für die Nehmerqualitäten der vier Schauspieler – zeigt, dass sich der Rest aber für dieses »Panikherz« begeistert: Suchtgefahr nicht ausgeschlossen.
Karola Schepp, 01.09.2018, Gießener Allgemeine Zeitung