Rebekka Kricheldorfs „Villa Dolorosa“ lebt von der lebendigen Präsenz der Darsteller und behandelt dringende, menschliche Fragen
„Man muss weiterleben“, lautet das Resümee – und sei dieses Leben noch so unerfüllt. Eher resignativ als trotzig aufbegehrend endet, was nach außen als Komödie sich ausstellt, nämlich Rebekka Kricheldorfs „Villa Dolorosa“, eine hochgradig intelligente Adaption von Anton Tschechows Drama „Drei Schwestern“. Das Stück hatte in der äußerst lebendigen, aber niemals klamautigen Inszenierung von Thomas Goritzki am Samstagabend Premiere im Stadttheater.
Was eine gute Komödie ausmacht, führte diese Inszenierung vor: Nicht hochnäsig von oben herab, sondern auf Augenhöhe beobachtet das Stück seine Akteure – das Komische und Unterhaltsame, das es so kurzweilig macht, dass der dreistündige Abend wie im Flug vergeht, dient als Mittel der Verhandlung von Fragen schlicht menschlicher Dringlichkeit. Genau dieses Merkmal übernimmt Kricheldorf für ihr Konversationsstück von der berühmten Vorlage, wobei sie verblüffend viele Details bis hin zu Gesprächsthemen und sogar Ausstattungsgegenständen wie etwa einem Samowar erhält und in eine moderne Gesellschaft transferiert. Wie bei Tschechow ist das Stück sinnfällig durch in der Handlung vorkommende Musik gegliedert, in der Inszenierung etwa Arien von Puccini und Leoncavallo, die Irina hört, die aber auch als Zwischenaktsmusik fungieren.
Im Deutschland der Gegenwart angesiedelt, entpuppen sich die russischen Namen der Geschwister Olga, Mascha, Irina und Andrej als Produkt der literarischen Russophilie der früh verstorbenen Eltern. Von den Resten eines gewissen ererbten Reichtums zehrend, sind sie auf Sinnsuche. Gemeinsam wohnen sie in einer früher prächtigen, jetzt bereits desolaten Villa. Heiko Mönnichs Bühnenbild führt uns in einen geräumigen Salon, dessen hohe klassizistische Säulen eine Stabilität suggerieren, die bei genauerem Hinsehen nur noch Fassade ist – die Dielen sind morsch, Wasserschäden zerfressen den Putz, die Lampen flackern.
Doppelfigur
Die einzige, die einem Beruf nachgeht, ist die Lehrerin Olga. Carolin Weber verkörpert sie mit einer souveränen Distanz (als würde Olga sich manchmal selber beobachten) als zunehmend verbittert, mit sarkastischem Intellektualismus, allmählich in einer Doppelfigur zugleich aufsteigend, nämlich zur Direktorin, und absteigend, zur alkoholisierten Zynikerin.
Irina, deren Geburtstage (insgesamt sind wir Zeuge dreier Feiern) als Katalysator der Handlung dienen, kann sich für keine Studienrichtung entscheiden, mal interessiert sie Philosophie, dann wieder Biologie. Johanna Maleckis Figur schafft den Spagat zwischen äußerer Lächerlichkeit (die auch fallweise durch die Kostümierung verstärkt wird) und aufrichtiger Sehnsucht nach einer Position in der hoffnungslos komplexen Gesellschaft mit ihren Wahlmöglichkeiten und -zwängen. Gänzlich ironisch ist es dabei, dass Irina sich in ihren Seminaren genau mit den Themen beschäftigt, deren existenziellen Druck alle Bewohner der kleinen Welt der Villa verspüren. Ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, hatte die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie gefragt (darüber schreibt Irina eine Hausarbeit), und genau das ist eigentlich die Frage des Stücks. Statt aber die Sache selbst in die Hand zu nehmen und aktiv ihr Leben zu gestalten, warten alle auf irgendetwas, das sie gleichsam von außen rettet: ein ominöser Erfolg (im Falle Andrejs, der sich als Schriftsteller versucht), ein Lebenspartner, ein Deus ex Machina vielleicht. Derweil kreisen sie in einem Zirkel der ewigen Wiederkehr des Immergleichen (jawohl, auch der Name Friedrich Nietzsche fällt einmal), allerdings mit einer erkennbaren Abwärtstendenz.
Mascha (gespielt mit all ihren Stimmungswechseln sehr plastisch von Anne-Elise Minetti), die mittlere Schwester, ist unglücklich verheiratet, verliebt sich aber in einen ebenfalls gebundenen Freund von Andrej, der seinerseits Unruhe in das instabile Gleichgewicht des höchst fragilen Familieneskapismus bringt, indem er mit einer jungen Frau eine Familie gründet, die von den Schwestern despektierlich als „Prekariatsschickse“ gemobbt wird. Mascha wird es schließlich sein, die endgültig zu zerbrechen droht, bei ihr erweist sich aber auch, wie jenseits leerer Ziele und gesellschaftlicher Ödnis geschwisterliche Vertrautheit und Nähe einen tatsächlich authentischen Ort im Nebel der Nicht-Orte herstellen kann.
Es ist die lebendige Präsenz aller Darsteller, von der diese Inszenierung lebt. Dem gibt Goritzkis Regie den gebührenden Raum. Äußere Handlung muss ja nicht viel agiert werden; umso bemerkenswerter ist die immer um ein imaginäres Zentrum (mal als Tisch, mal als Sitzsack, der dann wieder zur Bühne der Selbstbespiegelung werden kann) kreisende Choreographie, die natürlich mit typisch komödiantischen Mitteln arbeitet, aber nie überzieht. Auch etwa die eher klischeehaft angelegte Figur der Janine mit ihrer bildungsfernen Sprache wird in der Gestaltung durch Esra Schreier nicht zur bloßen Karikatur. Sehr wohl behalten alle Figuren (auch der verklemmt-geistreiche Georg von David Moorbach und Stephan Hirschpointners etwas ungelenker Andrej) ihre Würde. Das Lachen, das sie uns ermöglichen, ist empathisch, nicht höhnisch.
Karsten Mackensen, 08.04.2019, Gießener Anzeiger