Das Volk trägt Fahrradhelm und Mercutio und Benvolio wären die Stars in jeder Travestieshow. Auch sonst wartet Katrin Hentschel mit ihrer Version von »Romeo und Julia« mit Überraschungen auf.
Gekleidet in eine Art giftgrünen Putzschwamm schwebt Julia über den Gästen der Capulet-Party und singt in luftiger Höhe ihr zauberhaftes Lied. Kein Wunder, dass Romeo ihr sofort verfällt. Es ist der Beginn einer großen Liebe, die im bekanntlich noch größeren Fiasko endet. Regisseurin Katrin Hentschel bringt Shakespeares Klassiker nun auf die Stadttheaterbühne – mit schrillen Kostümen, aktuellen Bezügen und einer klaren Präferenz: einer starken Julia im Kampf der Geschlechter. Die Frischzellenkur tut der Tragödie gut, wenn auch nicht jeder im Publikum den klamaukigen Nebenerzählungen etwas abgewinnen kann.
Kampf der Geschlechter
In Hentschels Version kämpfen nicht in erster Linie die Montagues gegen die Capulets, sondern Frauen gegen Männer und Männer gegen Frauen. Die in prächtigen grüngelben Roben (Kostüme: Michaela Barth) herausgeputzten Capulet-Damen legen sich selbstbewusst mit den Montague-Männern an, die mit ihren verwaschen altrosa Anzügen und den zotteligen Frisuren schon allein optisch dagegen abfallen. Und auch an mentaler Stärke liegen die Capulet-Damen vorn: Nicht nur Thybald (grandios gespielt von Paula Schrötter, die zudem als schwatzhafte Amme gefällt) ist hier eine stolze Amazone, die sich voller Haß mit ihren tuntenhaften Widersachern Mercutio und Benvolio anlegt.
Auch Julia weiß trotz ihrer Jugend schon ganz genau, wo es langgehen soll. Esra Schreier spielt diese Julia mit der genau richtigen Mischung aus duftiger Jugendlichkeit und trotziger Stärke. Dieses Girlie im Glitzerdress weiß nicht nur ihrer geschäftstüchtigen Mutter (herrlich gefühlskalt: Carolin Weber) zu entgehen, sondern auch den romantisch veranlagten Romeo um den Finger zu wickeln. Kein Wunder, dass sie, obwohl schon längst den Liebestod gestorben, am Ende des Stücks das letzte Wort hat.
Romeo, der »«Waschlappen«
Magnus Pflüger, der den Romeo mit sanfter Hingabe spielt, fügt sich überzeugend dem eher faden Bild des jungen Liebenden, das Katrin Hentschel von ihm zeichnet. Sein Romeo ist ein eher schluffiger Typ, ein sein Liebesleid klagender Waschlappen und nur als der Hass zwischen den Familien eskaliert, nimmt er Fahrt auf – allerdings mit fatalem Ausgang. Dieser Romeo ist eben einfach mit dem Unglück verheiratet, ein Loosertyp.
Obszönitäten und Fremdenhass
Als frivole Romeo-Freunde bringen Mercutio (Stephan Hirschpointner) und Benvolio (Pascal Thomas) herrlich überspitzt Schwung hinein, der auch in Shakespeares »Globe Theatre« freudiges Gejohle ausgelöst hätte. Federfächer schwingend mischen die beiden Gecken mit derbsten Anzüglichkeiten und obszönen Gesten das Stück auf – manch Zuschauer im Stadttheater zuckt da zusammen, andere amüsieren sich köstlich.
Ungeteilte Zustimmung dürfte allerdings das Bühnenbild finden. Die Welt der Capulets und Montagues trifft auf eine Traumwelt, für die Bühnenbildner Jósef Halldórsson wunderschöne, an einen Eispalast erinnernde Bilder geschaffen hat. In einer polygonen Plexiglasblase kann Julia mit ihrem Romeo nicht nur die Hochzeitsnacht erleben, sondern auch sterben. Weiße, an Spermien erinnernde Luftballons schweben durch die Luft und es rieselt Schnee. Pater Lorenzo (Roman Kurtz) ist der Gegenentwurf zu dieser eiskalten Welt, scheint sogar unter die Baumbesetzer gegangen zu sein. Er empfängt das Liebespaar zur Trauung in luftiger Höhe auf einem mit Kronleuchtern behangenen Baumgerippe. Thomas Seher schafft mit einer Collage aus Tönen den passenden Sound zum märchenhaften Ambiente.
Standing Ovations
Um das vom Hass der Familien bestimmte private Liebesdrama auf eine allgemein-gesellschaftliche Ebene zu heben, zitiert das mit Radlershorts und Fahrradhelmen bekleidete Volk – gespielt von neun Laiendarstellern – einen erst 2016 publizierten Textauszug aus Shakespeares »Die Fremden«. In dem mahnt Thomas Morus den pöbelnden Mob zur Mäßigung. Erschreckend wie aktuell der von Dramaturgin Carola Schiefke übersetzte Text aus dem 16. Jahrhundert in heutigen Pegida-Zeiten ist, aber dennoch wirkt er im Stück zu absichtsvoll aufgesetzt. Verwirrend ist auch das unvermittelt im Stakkato-Stil erzählte Finale. Da wird im Zeitraffer gestorben, flüchten sich Feinde in Knutschereien und steht die tote Julia wieder auf, um doch noch das letzte Wort zu haben. Aufgestanden sind bei der Premiere auch einige Zuschauer, um die erfrischend giftgrüne Version von »Romeo und Julia« verdient mit Standing Ovations zu feiern.
Karola Schepp, Gießener Allgemeine Zeitung, 19.11.2018