Internationales Festival „TanzArt ostwest“ des Gießener Stadttheaters mit„In-de-fl-air“ eröffnet / Luftrettungszentrum als Bühne
Am Samstag begann das internationale Festival „TanzArt ost-west“. Die Eröffnungsperformance fand wieder an einem besonderen Ort statt: dem Luftrettungszentrum der Johanniter in der Lahnstraße. Die Kulisse war auch ohne den Hubschrauber bemerkenswert und die Gießener Tanzcompagnie präsentierte erwartungsgemäß eine handwerkliche und expressive Topleistung. „In-de-fl-air“ hieß die Vorstellung.
Lucyna Zwolinska, Gastchoreografin bei der Compagnie, hatte sich die „Site Specific-Performance“ (ortsspezifisch) einfallen lassen, mit denen traditionell bei TanzArt gearbeitet wird. Die nächsten Performances fanden in der Tiefgarage unter dem Rathaus und in der Neugeborenenstation des UKGM statt.
„Wir haben lange gesprochen“, sagte Tanzdirektor Tarek Assam in seiner Begrüßung etwas ominös, „und dabei rausgekommen ist, dass Sie alle heute Abend hier in diesem wunderschönen Raum sind und wir diese Vorstellung machen können.“ Tatsächlich dauerten die Verhandlungen etwa zwei Jahre – nicht ungewöhnlich bei so komplexen Projekten. „Eigentlich ist das eine Veranstaltung, die in dieser Form gar nicht geht“, sagte Günther Lohre, der Leiter der Einrichtung, „Die Luftrettung und eine Tanzveranstaltung, das ist schon eine sehr gewagte Geschichte – wir betreiben hier eine fliegende Intensivstation. Aber Tarek hat mich dazu gezwungen.“
Im Namen des Magistrats begrüßte die ehrenamtliche Stadträtin Astrid Eibelshäuser die Anwesenden. Seit vielen Jahren kooperierten das Kulturamt und die Tanzcompagnie beim TanzArt-Festival, sagte sie. Der Ort werde durch die Bespielung „in eine neue ästhetische Funktion transferiert“.
Das konnte man wohl sagen. Lucyna Zwolinskas Choreografie hatte ebenso schwierige wie verheißungsvolle Voraussetzungen zu meistern und zu erfüllen. Abgesehen vom nüchternen Ambiente des Hangars bot sich dem Betrachter eine bemerkenswerte Bühne: Durch das riesige Tor sah man direkt auf die Stadt und ins Land dahinter, ganz abgesehen vom sommerlichen Himmel über Gießen. Diese enorme Szenerie, noch dazu vom Wind bewegt und von Vögeln belebt, besaß mit ihren optischen Reizen allein schon eine erhebliche Kraft, war eine Attraktion für sich.
Leo Vendelli und Gleidson Vigne nahmen sich da bei ihrem Eröffnungsduo geradezu winzig aus, und auch Gabriele Basilicos Musik, die das Geschehen ergänzte, konnte den Raum nicht wirklich füllen. Zwolinska hatte diese enormen Verhältnisse im Blick und ließ die Truppe durch Läufe der Figuren geometrische Verbindungen schaffen, sie verstand den Raum als Luxus, fast endlose Freiheit der Bewegung und Darstellung. Zuweilen zogen sich die pausierenden Tänzer in den Außenbereich zurück – „der Hubschrauber“, wie ihn alle nannten, war zuvor abgeflogen und ward nicht mehr gesehen, obgleich er jederzeit hätte erscheinen können: spannend.
So konnte man sich dem Tanz doch ungestört widmen. Zwolinska nutzte die hohe tänzerische und darstellerische Kompetenz der Tänzerinnen und Tänzer zu intensiven solistischen Partien und ergänzte sie durch originelle Abschnitte, in denen das Ensemble klassisch synchron agierte. Die Kunst bestand darin, wie dies durch geschickt gesetzte musikalische und szenische Akzente ergänzt und variiert wurde.
Es ging um das Thema Retten, Helfen und Heilen, abgeleitet von der Örtlichkeit. Das war sehr anschaulich umgesetzt, zudem ging es um Empathie, die den Tänzern eine vertraute Größe ist. In einer Szene hörte man einen Herzton, der auch irgendwann in ein Dauerpiepsen überging: Patient tot, und das konnte man auch sehen: fieberhafte Anstrengungen der Truppe, die Solistin wieder zu beleben. Auch ein stilisiertes Propellergeräusch erklang und ein paar aufgeblasene Luftballons, entweder abgezischt oder nur beatmet, erinnerten an das hier vorherrschende Medium. Alles aber nicht mit dem Zeigefinger umgesetzt, sondern diskret, spielerisch und durchaus auch abstrakt. Immer wieder auch raumquerende Gruppenaktionen, die gleichsam für das professionelle Miteinander der Profiretter stehen konnten. Die Choreografie erwies sich insgesamt als plausibel, funktional und nicht zuletzt unangestrengt originell: zum Auftakt ein Spektakel. Das begeisterte Publikum applaudierte minutenlang.
Heiner Schultz, 03.06.2019, Gießener Anzeiger