300 Schüler, 82 Musiker, 19 Choreografen: Riesenapplaus für Gesamtkunstwerk „Surrogate Cities“ in Gießener Osthalle
Die Osthalle praktisch ausverkauft, der Ablauf fehlerfrei, der Schlussapplaus richtig stark und lang: Die szenische Aufführung der Orchestersuite „Surrogate Cities“ von Heiner Goebbels am Samstag war ein voller Erfolg – und ein markanter kultureller Akzent.
Das passte perfekt in die Reihe der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Gesamtschule Gießen Ost: „Eine jugendlich dynamische Großproduktion mit opulentem Orchester, Stimmen, Sampler, kleinen und großen Tänzern“, hatte das Theater angekündigt und damit nicht zuviel versprochen. Martin Spahr war der musikalische Leiter, Tarek Assam, Tanzchef des Gießener Stadttheaters, übernahm die szenische Gesamtleitung, die Klangregie hatte Norbert Ommer. Die etwas karge Ausstattung stammte von Lukas Noll, das Licht von Tarek Assam und Klaus Nass, und die Produktionsleitung lag bei Hannes Schladebach. Der Jugendclub „Spieltrieb“ des Theaters baute die Kulissen auf. Die gesungenen und gesprochenen Texte stammen von Paul Auster, Heiner Müller, und Hugo Hamilton. Der Gesang kam von Jocelyn B. Smith und David Moss aus New York, Sprecher war Roman Kurtz. Als Breakdancer agierten Abtin Afshar Ghotlie, Anton Wagner und Federico Aledda; ihr Beitrag wird zwar gut beklatscht, ist jedoch nur peripher sichtbar. Die Stadt hat eine besondere Beziehung zum international renommierten Komponisten und Theaterkünstler, der lange das Institut für Angewandte Theaterwissenschaften leitete und die letzte Ausstellung in der Kunsthalle bestritt. Goebbels, Jahrgang 1952 („Ich bin kein Komposter“), ist bekannt für experimentelle wie tiefgründige Inhalte. Und der kreative Tanzchef Assam stets für eine Überraschung gut.
19 Choreografen, 300 Schüler, 82 Musiker und ein Sprecher: Zehn Schulklassen der Ostschule wollten zusammen mit den Profis die Klänge zum Leben erwecken. Zahlreiche Tänzer der Tanzcompagnie erarbeiteten mit den Schülern die Choreografien, was zu einem auffallend differenzierten Ergebnis führte; wahrlich ein Großprojekt.
Zunächst spürt man jedoch nur große Erwartungen. Das durchmischte Publikum, darunter auffallend viele Kinder, ist schon früh gekommen, staunend wird die Bühne betrachtet. Auf dem Spielfeld ist auf einem hellen Teppich das komplette Philharmonische Orchester platziert, zwei Schlagwerker stehen bereit, ein Gerüst trägt Scheinwerfer und eine Übertragungsanlage, Lichterketten umgeben das Geviert; es ist warm.
Dann geht pünktlich das Licht aus, Martin Spahr hebt den Arm, und die Show beginnt. Mit geräuschunterfütterten collagierten Elementen breitet sich ein Klangteppich aus, der – alle Instrumente sind mikrofoniert – durch die Übertragung hochtransparent in die Halle gebracht wird, wie bei einem Popkonzert, nur nicht so laut. Das Publikum ist noch unschlüssig – ist es ein Schulkonzert oder ein Theaterstück mit Schülern oder vielleicht Theater?
Bald laufen die ersten Schüler ein, formieren sich zu losen Figuren, stets in Bewegung, stumm. Diese Gruppen tauchen an allen Ecken der Halle auf und gehen wechselhaft ab: Bemerkenswert konzentriert waren die Kids (praktisch niemand zupfte an den Klamotten), und die versammelte, auch mimische Geschlossenheit machte sich im großen Ganzen deutlich bemerkbar – diese Jugendlichen haben verstanden, dass sie Theater machen. Und dabei war die Generalprobe in die Hose gegangen.
Schauspieler Roman Kurtz beginnt seine Texte zu sprechen, die Musik fließt weiter, mehr Kids treten auf, dann setzt bald David Moss einen provokanten Akzent. Sein Beitrag ist eine Mischung aus Gesang, Sprache und Schreien ohne Text, er bewegt sich mitten unter den bewegten Tänzern, seine Stimme erfüllt den ganzen Raum. Direkt sinnstiftend ist das nicht, aber man beschließt schnell, dass es darauf nicht ankommt.
Martin Spahr lässt das Philharmonische Orchester perfekt agieren, mit spürbar hohem Engagement. Das Ensemble ist gut disponiert und agiert mit tadelloser Geschlossenheit, was man bei der Übertragung gleichsam wie durch eine Lupe registriert: Auch die kleinsten Effekte, Straßengeräusche (die zuweilen auch vom Ensemble kommen) oder sonstiges sind mühelos zu erkennen. In der Halle entsteht eine Art Gesamtklang, der den Zuhörer umhüllt. Währenddessen agieren immer irgendwo Tänzer, es gibt den ganzen Abend keinen Stillstand, das Publikum applaudiert in den Satzpausen. Überhaupt: Es fällt auch den Erwachsenen schwer, zuzuhören. Immer gibt es was zu tuscheln – die Eindrücke sind offenkundig stark. Eine Frau benutzt nach einer Viertelstunde ununterbrochen ihr taktvoll abgedunkeltes Handy. Wofür ist sie hier? Später macht sie ein paar Bilder. Viele Menschen sind nicht im Theater angekommen, aber schließlich sitzen sie ja in einer Sporthalle. Langsam wir es ruhiger. Ganz diskret, fast unmerklich, bauen die Mitglieder des Jugendclubs Tanz peu à peu die weißen Blöcke auf, die symbolischen Stadtmauerteile.
Immer wieder wandelt sich die höchst abwechslungsreiche, mit modernen Elementen strukturierte Musik der „Ersatzstädte“ zu heftigen rhythmischen Partien, manche sind fast tanzbar, es gibt ständig Geräuschzusätze, der große Fluss rauscht weiter, eigentlich gibt es nämlich keine Pausen, nur Momente des Innehaltens. Schließlich tritt Sängerin Jocelyn Smith dazu, sie singt einen bluesigen Song, später agiert noch mal David Moss. Die Zeit vergeht wie im Fluge. Allmählich verebbt dann der Musikstrom, der von zweckdienlichem Licht begleitet wird. Die jugendlichen Tänzer schreiten immer noch mit ernsten konzentrierten Gesichtern durch ihre Figuren, lösen beim Betrachter immer noch gleichsam paradoxe Empfindungen und Gedanken aus.
Heiner Goebbels‘ szenisches Konzert formt sich an diesem Abend unter bemerkenswertem Engagement aller Beteiligten zu einem Großerlebnis aus Sound, Musik, Tanz und Licht, das den Charakter der prosaischen Halle in jeder Hinsicht transzendiert und auch die Zuhörer spontan zu heftigem Applaus motiviert, der sehr lange anhält: Volltreffer.
Heiner Schultz, 24.09.2018, Gießener Anzeiger