Erhellender Einblick in die Musikwelt des 18. Jahrhunderts: Philharmonisches Orchester zeigt sich unter dem Dirigat von Spezialist Werner Ehrhardt hoch motiviert
Mit Werner Ehrhardt stand beim jüngsten Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters am Dienstagabend ein renommierter Spezialist für Alte Musik am Dirigentenpult. Er forderte von den Musikern viel – und er bekam viel. Das Ergebnis war ein kontrastreicher, vielschichtiger und erhellender Einblick in die Musikwelt des 18. Jahrhunderts.
Man kann es klar sagen: Die Grabenkämpfe um „historische“, „historisch informierte“, „authentische“ Aufführungspraxis – oder wie immer die vielen Bezeichnungen für ein an früheren Spielweisen, Klängen und Instrumenten interessiertes Musizieren lauten mögen – sind obsolet. Längst sind sie einer Öffnung der Hör- und der Spielhorizonte gewichen, die weniger dogmatisch als flexibel die vielen Angebote, wie sie musikalisch seit den ersten Erkundungen einer neuen Ästhetik, etwa durch Nikolaus Harnoncourt, gemacht wurden, aufnimmt und ins eigene musikalische Handeln integriert. Dass heute ein Stadttheaterorchester derart anspruchsvoll und mit historisch gespitzten Ohren Alte Musik zu interpretieren vermag, wie am Dienstag, hängt mit dieser Entwicklung zusammen. Aber natürlich nicht nur: Ein erfahrener Spezialist wie Ehrhardt kann dann, auf das Potential aufbauend, das sich das Orchester ja im letzten Dezennium auch systematisch erarbeitet hat, seine differenzierten musikalischen Vorstellungen umsetzen.
Die gute Laune, die Lebendigkeit, die Frische seines Dirigats (ohne Stab) wirkte auf alle Beteiligten offenbar hoch motivierend. Dass hier keine irgendwie puristische Interpretation realisiert wurde, versteht sich von selbst: Die Musiker spielten überwiegend auf modernen Instrumenten, nur vereinzelt sah man den einen oder anderen Barockbogen; zwar gab es Naturtrompeten, dafür aber Ventilhörner; das vibratolose Spiel wollte nicht allen so ganz in die Finger.
Was zählt, ist das Ergebnis: eine dynamische, in den raschen Sätzen pulsierende, in den langsamen Sätzen sprechende, ausdrucksstarke Musik von großer Transparenz und ohne jede Schwerfälligkeit. Zu tragen kam das in den stilistisch sehr unterschiedlichen Stücken des Programms. Das zweite der „Concerti a due Cori“ von Georg Friedrich Händel (1747) machte den Anfang, Gelegenheit gerade für die Bläser, im konzertierenden Wechsel ihr Können unter Beweis zu stellen – und ein stilles Vergnügen fürs Publikum, das innerlich die zahlreichen Stellen aus bekannten Händel-Oratorien mitsummen konnte, die der Komponist geschickt verarbeitet hat.
Ökonomisch ebenfalls nicht unmodern ist die Verarbeitung einiger Nummern aus seiner ersten Ballett-Oper „Les Indes galantes“ (1735) zu einer Suite durch Jean-Philippe Rameau. Im Wesentlichen beschränkte sich die Auswahl neben der Ouvertüre im Stil Lullys auf Tänze, die seinerzeit als adäquater Ausdruck des „Exotischen“ gehört wurden (die Oper spielt in der Türkei, Peru und im Persischen Reich) – allerdings in nicht gänzlich unerhörten Formen wie einem polnischen Lied oder einem Rondeau. So ohne Bühne ist es aus heutiger Sicht gar nicht so einfach, die „afrikanischen Wilden“ oder die „Inkas“ zu identifizieren.
Die zweite Programmhälfte erhellte mit dem Sprung ins späte 18. Jahrhundert die reale Vielfalt der musikalischen Landschaft neben den „Wiener Klassikern“. Joseph Martin Kraus ist inzwischen kein Unbekannter mehr; die Ouvertüre des schwedischen Kapellmeisters zum Schauspiel „Olympie“ von 1792 ist ein düsteres, prachtvoll tragisches Stück Musik. Anton Eberls frühe Sinfonie in C-Dur aus dem Jahr 1785 dann schließlich ist ein mitreißendes, dreisätziges Gebilde, das auch ohne Verweis auf die Ähnlichkeit des ersten Themas mit Mozarts „Haffner“-Sinfonie kritischem Hören standhält. Es lohnt sich sehr, diese ausgezeichnete Musik wieder im Konzertsaal lebendig werden zu lassen.
Karsten Mackensen, 28.02.2019, Gießener Anzeiger