DANIEL GOLDIN STUDIERTE SEINE PREISGEKRÖNTE CHOREOGRAFIE MIT DER TANZCOMPAGNIE GIESSEN
Ein weiterer Klassiker der Tanzmoderne ist auf der Gießener Studiobühne taT zu sehen, wieder einstudiert vom Choreografen persönlich. Das vierteilige Tanzstück „Wegerzählungen / Cuentos del Camino“ von Daniel Goldin hatte 1994 Premiere in Münster, aufgeführt von Mitgliedern des Essener Folkwang-Tanzstudios. Die Duette entstanden zu verschiedenen Zeiten (1986, 1992, 1993) und die ersten drei wurden anfangs auch als Einzelchoreografien aufgeführt. Erst für die Aufführung 1994 wurden sie aneinandergefügt und erhielten einen vierten Teil dazu. Die Duette scheinen aus einer anderen, einer vergangenen Welt zu kommen, allein wegen der Gewänder, die an Alltagskleidung des 19. Jahrhunderts erinnert.
Daniel Goldin ist von seiner Familienbiografie geprägt. Er wurde in Argentinien geboren, als Nachfahre von jüdischen Auswanderern, die um 1900 die Ukraine verließen auf der Suche nach dem Goldenen Amerika. Goldin erhielt seine Tanzausbildung bei Renate Schottelius, eine Mary Wigman-Schülerin, die während des Nationalsozialismus ins Exil ging. Dadurch erlernte er den deutschen Ausdruckstanz quasi in Reinform. Ein Tanzkritiker schrieb: „Wenn der Ausdruckstanz der 1920er Jahre der deutsche Tanz schlechthin gewesen ist, dann ist der Argentinier Goldin der deutscheste aller Tanztheaterchoreografen.“ Goldin ging zurück ins Ursprungsland des Ausdruckstanzes, nach Deutschland, und studierte im Folkwang-Tanzstudio unter Pina Bausch. Münster/Westfalen wurde ihm ab 1996 Heimat, er konnte am dortigen Theater 16 Jahre lang mit einem festen Ensemble beständig und erfolgreich arbeiten. Die Zeit ist seit 2013 vorbei. Er hat wieder in San Martín/Argentinien gearbeitet, choreografisch und in der Lehre. In Europa hat er jetzt auch Frankreich kennengelernt, wo er den „Professeur de Danse“ erwarb. Das ständige Unterwegssein ist auch sein Lebensthema. Die Musik ist zusammengestellt aus der Volksmusik Galiziens und Irlands, gemischt mit Naturrauschen und Straßensounds. Die Ursprünglichkeit der galizischen Landschaft (Nordspanien) und das einfache Leben der Menschen dort inspirierten Goldin 1986 zu seinem ersten Duett. Das erste Duett „A la Deriva / Treibgut“ wird hingebungsvoll getanzt, beinahe stehend an einem Punkt, hin und her schwankend wie Halme im Wind. „La Peregrinación / Die Wallfahrt“ erfolgt diagonal durch den Raum, das Paar ist unterwegs in Straßenkleidung mit Hut und Kopftuch. „La Sombra y la Luna / Schatten und Mond“ wird zur fast somnambulen Trance, die beiden scheinen die Kontrolle über ihre Sinne verloren zu haben. „Alborada / Morgendämmerung“ steht für die Hoffnung, das Paar fährt in einen Hafen ein, schaut und sucht, bis sie dem Hoffnungsschimmer leichtfüßig entgegen tanzen. Intensives Tanztheater, das zum Einlassen, Einfühlen und Nachdenken einlädt.
D. Klein, M. Spanner, M. Becker; Januar 2018, FRIZZ Magazin