Über Willkommenskultur wird hierzulande viel diskutiert. Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben darüber eine Komödie geschrieben. Die äußerst gelungene Aufführung von WILLKOMMEN im Stadttheater zeigt, dass es mit Toleranz und Humanität schnell vorbei sein kann, wenn es persönlich wird.
»Die haben wirklich kein Klischee ausgelassen. Aber man kann sich total wiedererkennen«. Die zwei Zuschauerinnen, die am Samstag nach der Premiere im Stadttheater mit diesen Worten zufrieden das Große Haus verlassen, bringen es auf den Punkt. WILLKOMMEN von Lutz Hübner und Sarah Nemitz trifft mitten ins Zentrum der komplizierten deutschen Gefühlslage zum Thema Flüchtlinge. Es wertet nicht, macht aber unterschiedlichste Meinungen und die damit verbundenen Verunsicherungen anschaulich und gibt Denkanstöße: glaubhaft, ohne plakative Schwarz-Weiß-Malerei, mit köstlichem Humor und herrlich bissigen Pointen. Und weil Intendantin und Regisseurin Cathérine Miville den 75-Minüter zudem noch in die typische Hinterhofidylle eines Gießener Südviertel-Altbaus verlegt, kommt das Stück umso authentischer beim Publikum an. Dank des von Lukas Noll entworfenen Bühnenbilds mit Foto-Blick auf Gründerzeithäuser, wie man sie aus Alicen- oder Liebigstraße kennt, fühlt man sich, als säße man mit am Gartentisch der durchgestylten und mit Musik aus hipper Blue-Tooth-Anlage beschallten Wohngemeinschaft (Kostüme: Teresa
Rinn).
Es sind die sechs Darsteller, die den Zuschauern als Projektionsfläche ihrer eigenen alltäglichen Überlegungen dienen und die von den vier Neuen im Schauspielensemble und zwei Gästen erfrischend gespielt werden. Da ist zum einen der bisexuelle Dozent Benny (gewohnt lässig-souverän verkörpert von Christian Fries), der für ein Jahr in New York bei seinem Freund arbeiten will und sein WG-Zimmer in der schicken 200-Quadratmeter-Wohnung »mit Stuck und Parkett« einer syrischen Flüchtlingsfamilie zur Verfügung stellen würde – wenn er denn vorher seine Plattensammlung in Sicherheit bringen kann. Als ehrenamtlicher Helfer »an der Rödgener Straße« hat er schließlich erlebt, wie schwer es Flüchtlinge haben. Doch sein für ihn selbst mit scheinheilig wenigen Einschränkungen verbundener Vorschlag stößt nicht bei all seinen Mitbewohnern auf Gegenliebe: Hauptmieterin Sophie, eine wenig selbstbewusste und nur mäßig erfolgreiche Fotografin »mit Helfersyndrom« und reichem Papa als Sponsor, findet den Vorschlag ihres Ex-Lovers gut, will sogar gleich ein kreatives Projekt daraus machen. Paula Schrötter spielt diese Sophie überzeugend als empfindsamen »Gutmenschen«, die aber durchaus ihre Krallen ausfahren kann, wenn es nicht nach ihrem Willen geht, und frustriert ist, als Papa über Skype damit droht, den Geldhahn zuzudrehen.
Alles andere als begeistert von den potenziellen Mitmietern ist Doro, emanzipierte Mutter einer erwachsenen Tochter. Ewa Rataj gibt dieser Verfechterin klarer Worte und erklärter Feindin von arabisch aussehenden Chauvinisten eine klare Kontur: herrlich ehrlich und wunderbar resolut.
Auch der unscheinbare Banker Jonas, den Gast Karsten Morschett spielt, kann sich nur schwer anfreunden mit dem Gedanken, demnächst Wand an Wand mit einer lärmenden Großfamilie zu leben. Schließlich ist der Fan gepflegter Jazzmusik noch in der Probezeit und hat am liebsten seine Ruhe.
Studentin Anna, deren Überforderung mit der Situation Lotta Hackbeil glaubhaft zeigt, hat noch ein anderes Problem mit Bennys Vorschlag: Sie ist schwanger und würde im frei werdenden Zimmer am liebsten ihren Freund Achmed (Stephan Hirschpointner) unterbringen. Doch ob sie ihn und das Kind auch wirklich will, ist noch lange nicht klar. Und dabei ist Achmed, der als Deutschtürke der dritten Generation in einer Fahrradwerkstatt »gepimpte Kanaken« betreut, doch in den Augen aller WG-Bewohner ein wahres »Sahneschnittchen«: humorvoll, unkompliziert und zudem der erste Türke, den sie näher kennenlernen, »und der nicht Gemüse oder Handys« verkauft. Nur mit der »Willkommenskultur« für Flüchtlinge hat er so seine Probleme: »Meinen Großvater hat niemand integriert, als er hier ankam, das Wort gab es noch gar nicht.«
Wer am Ende das Zimmer bekommt und ob die WG-Bewohner zu einer Einigung kommen, sei an dieser Stelle nicht verraten. Wohl sei aber eine Prognose gewagt: Intendantin Miville hat mit der Auswahl des erst im Februar uraufgeführten Stücks und ihrer ganz auf Gießener Verhältnisse zugespitzten Inszenierung einen Volltreffer gelandet. So wie ihre frühere Hübner/Nemitz-Inszenierung von FRAU MÜLLER MUSS WEG wird auch WILLKOMMEN außerhalb des Abonnements die Zuschauer in Scharen ins Theater locken – und das hoffentlich noch länger als nur eine Spielzeit. Anschauen wird dringend angeraten. Die nächsten Gelegenheiten gibt es schon mal am 6. und 20. Oktober, 10. November, 3. und 30. Dezember, 27. Januar, 16. März und 22. April.
Karola Schepp, 25.09.2017, Gießener Allgemeine Zeitung