Die Opernspielzeit beginnt am Stadttheater mit einem Klassiker. Rossinis »Barbier von Sevilla« trumpft in der Regie von Dominik Wilgenbus als bonbonbunte Komödie auf.
Der Weg ist vorgegeben. Es geht um Humor, um Spaß in der Musik und auf der Bühne. Wenn der Männerchor auf Teppichklopfern musiziert, Figaro zum Rasieren Dr. Bartolos Gesicht an einer riesigen Rasierklinge hin- und herschiebt oder eine Gift spritzende Stoffspinne per Regenschirmspitze erledigt wird, darf gelacht werden. Das ist der Plan von Regisseur Dominik Wilgenbus. Er will gute Unterhaltung bieten. So hat es sich auch Gioachino Rossini für seinen »Barbier von Sevilla« aus dem Jahr 1816 gewünscht. Mit der berühmten komischen Oper des Italieners begann am Samstag die Musiktheatersaison im Stadttheater.
Das Einheitsbühnenbild für die beiden Akte (das Programmheft verspricht sogar vier Akte) von Ausstatter Lukas Noll lässt die Darsteller auf einer gewölbten Frisiertischplatte agieren. Kamm und Schere sind mehr als mannshoch, werden aber als Kamm und Schere genutzt. Der ovale Spiegel im Hintergrund zeigt die Risse der Zeit und fungiert als Tür. Die bonbonbunten Kostüme illustrieren, wie von Ausstatter und Regisseur beabsichtigt, die ironische Überzeichnung des Geschehens.
Dem farbenfrohen Treiben auf der Bühne, den Verwirrspielen und Verwechslungen begegnet Wilgenbus mit einem sicheren Gespür fürs Timing. In seiner zweiten Stadttheater-Arbeit nach einer munteren »Weißen Dame« (2016) gelingt ihm diesmal eine punktgenaue Verzahnung der geschwätzigen Dialoge mit der pulsierenden Musik. Der scheidende Generalmusikdirektor Michael Hofstetter führt dazu sein Philharmonisches Orchester Gießen im Graben elegant und mit gutem Tempo durch die freundliche Partitur. Die rhythmisch straff kalkulierten Phrasen der dynamisch aufspielenden Musiker lassen sich gut verknüpfen mit dem Wilgenbus’schen Ansatz, seinen Darstellern mechanische Effekte zu oktroyieren. »Wir haben die menschliche Essenz quasi ausgepresst und in Apparaturen abgefüllt«, bekräftigt der Regisseur vor der Premiere.
Am Ende des ersten Akts ist diese Absicht gut zu erkennen, wenn die Protagonisten herumhampeln wie Figuren aus dem Arsenal der Augsburger Puppenkiste. Hofstetter spielt das Finale vor der Pause zum ersten Mal in seiner Karriere in voller Länge. »Sonst werden immer mal 50 Takte gestrichen, diesmal wollten alle den Ulk bis ins letzte Detail auskosten«, sagt er nach der Premiere am Samstag. Im zweiten Akt grüßt als einziges Fremdzitat des Abends Henry Mancinis »Pink Panther«-Melodie auf dem Cembalo, ehe am Ende aller aufgelösten Verwicklungen im Schlussbild die junge Susanna (Anne Abel) aus Mozarts »Figaro« erscheint, um ihren Scherenkünstler sogleich vor den Kopf zu stoßen.
Der lyrische Tenor Enrico Iviglia macht in seinem Gießen-Debüt als Graf Almaviva mit dem Konterfei der Rosina auf der Brust schon in der ersten Cavatine deutlich, wer hier das Belcanto-Sagen hat. Im Forte klingt er in der Höhe etwas belegt, hat aber im Piano traumhafte Momente. Über einen Bass von bäriger Stärke und abgründiger Schönheit verfügt Daniele Macciantelli. Ebenfalls zum ersten Mal am Stadttheater zu Gast, macht der hochgewachsene Sänger im Orgelpfeifentalar aus dem Musiklehrer Basilio nicht nur in der Verleumdungsarie einen Höhepunkt dieser Opera buffa. Der dunkel gefärbte Männerchor des Hauses setzt seinerseits Akzente.
Sopranistin Naroa Intxausti gibt die Rosina im roten Rosenkleidchen als quirlige Schönheit mit silbrigen Höhen, auch wenn Rossini die Rolle ursprünglich für einen Mezzosopran schrieb. Grga Peroš hat als Figaro mit Willy-Millowitsch-Optik die Lacher auf seiner Seite. Gesanglich scheint er erneut eine Spur gereift. Tomi Wendt zeichnet den hartleibigen Dr. Bartolo mit boulevardesker Mimik. Heidrun Kordes ist als Marcelline erste Wahl, und der beste Bariton-Stuntman der Welt, Alexander Hajek, hat gleich in mehreren Rollen die Hosen an.
Die letztgenannten fünf Sänger sind derzeit auch in der inhaltlichen Fortsetzung des »Barbiers« zu erleben, in Mozarts »Le nozze di Figaro« aus dem Vorjahr. Die Oper wird weiterhin am Haus am Berliner Platz gespielt. Da der Vorverkauf lahmt und Hajek im »Barbier«-Programmheft nicht erwähnt wird, liegt am Samstag ein Einleger bei, in dem zwei Karten für den »Figaro« zum Preis von einer offeriert werden - und der kanadische Bariton in seiner Nebenrollenvielfalt ergänzt ist.
Mit seinen Einfällen setzt Regisseur Wilgenbus dem jungen Rossini, einem Meister der Parodie und musikalischen Ironie, im »Barbier« noch eins drauf mit der Folge, dass nun alle auf der Bühne ständig komisch sein müssen. Auf diese Weise erfährt der Humor eine gewisse Inflation. Die Oper, als Komödie erdacht, wird zum Klamauk. Slapstick-Einlagen jagen die Commedia dell’Arte. Die Albernheiten stellen, jede für sich genommen, süffisante Scherze dar, in toto werden sie im überzeichneten Gute-Laune-Kosmos zu einem schnuffigen Panoptikum, zur Quadratur des Kreises. Das Publikum im ausverkauften Großen Haus ist begeistert, jubelt und spendet minutenlangen Applaus.
Manfred Merz, 16.09.2019, Gießener Allgemeine Zeitung