Nur ein Dreivierteljahr nach seiner bemerkenswerten Aufführung von Mozarts „Hochzeit des Figaro“ zeigt das Stadttheater Gießen nun Gioachino Rossinis „Barbier von Sevilla“. Dem 2. Teil der Vorlage, Pierre de Beaumarchais „Figaro“-Trilogie, folgt nun mit dem ersten die Vorgeschichte, in der Graf Almaviva seine spätere Frau Rosina aus dem Haus ihres Vormundes Dr. Bartolo zu entführen sucht. Dank der Wiederaufnahme von „Figaros Hochzeit“ kann man sogar beide Opern vergleichen und begegnet zum Teil den selben Darstellern: Grga Peroš, bei Mozart der Graf, ist jetzt Figaro und damit des Grafen Verbündeter statt Gegenspieler. Naroa Intxausti, bei Mozart die Susanna, ist nun Rosina, Tomi Wendt durfte bei Mozart zwischen Figaro und der Nebenfigur Dr. Bartolo wechseln; jetzt spielt er mit Bartolo das Opfer der Intrige. Alexander Hajek, die Alternativbesetzung des Figaro bei Mozart, finden wir nun als Almavivas Diener Fiorello, als Sergeant und als Notar wieder. Ob man nun eine andere Figur innerhalb der Handlung darstellt oder eine andere Facette ein- und derselben Persönlichkeit – die Konstellation hat ihren Reiz für Darsteller und Publikum. Neu in der Rossini-Oper sind Enrico Iviglia als Almaviva und Daniele Macciantelli als Musiklehrer Basilio. Wie in Gießen kaum anders zu erwarten, sind die Rollen trefflich besetzt und die Beteiligten bestens aufeinander abgestimmt, einschließlich des sehr präsenten Herrenchors. Und obwohl es sich am 1. Weihnachtsfeiertag erst um die 4. Aufführung nach der Premiere vom 24.9. handelt, hält die szenische Spannung bis zum Schluss. Statt GMD Michael Hofstetter, der das Theater leider Ende 2019 nun doch verlässt, steht Kapellmeister Martin Spahr am Pult. Manchmal treibt er die schnellen Tempi an die Grenze des für die Sänger Machbaren und ist am Ende mehr als 10 Minuten früher fertig als angekündigt, doch das Ensemble hält dabei erstaunlich gut mit. Wie sorgfältig das Philharmonische Orchester Gießen die Partitur einstudiert hat, hört man schon in der Ouvertüre an charakteristisch geschärften Details. Und auch später gilt: Die Musik redet hörbar mit in dieser Handlung.
Regisseur Dominik Wilgenbus und Ausstatter Lukas Noll legen ihre „Barbier“-Inszenierung freilich ganz anders aus als ihre Kollegen Thomas Goritzki und Heiko Mönnich den „Figaro“. Das ist sicher der eigenen künstlerischen Profilierung geschuldet, trägt aber auch dem Umstand Rechnung, dass zwischen den beiden Opern entscheidende 30 Jahre liegen. Was hat sich geändert? Bei dem deutschen Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus (1928-1989) finde ich das Stichwort „Rossini und die Restauration“. Wo bei Mozart noch der Freiheitswille der Aufklärung und das Humanitätsideal der Klassik noch zu spüren sind, scheint bei Rossini das desillusionierte, bisweilen zynische Arrangement mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nach dem Wiener Kongress durch. Auf der Bühne sehen wir: es ist vor allem das Geld und die Gier danach, die die Menschen antreibt. Bei Figaro und Almaviva kommt eine gute Portion Narzissmus dazu. Der Barbier sonnt sich im Bewusstsein der eigenen Gewitztheit und Unentbehrlichkeit, der Graf in seinem jugendlichen Draufgängertum und seiner Eroberungslust. Wie Enrico Iviglia in seiner Serenade zu Beginn stimmlich und szenisch die textlichen und musikalischen Übertreibungen ausspielt, werde ich nicht vergessen, nicht seine gelungene Parodie eines scheinheiligen Klerikers (verkleidet als „Alonso“) und auch nicht sein zähnebleckendes Grinsen in den Momenten wirklichen und scheinbaren Triumphs. Rosina erscheint vor allem getrieben vom unbedingten Willen, dem häuslichen Gefängnis zu entkommen: die Liebe zu ihrem Anbeter „Lindoro“ kommt ihr da gerade recht. Naroa Intxausti spielt sie als kaum zu bremsendes Energiebündel. Bartolo pocht vergeblich auf Autorität und Status. So wie Tomi Wendt ihn verkörpert, hat er etwas von Charlie Chaplin; er wirkt lächerlich, aber paradoxerweise nicht würdelos. Auch seine kleine weihnachtliche Anspielung hat Geist, wenn er versehentlich zuerst „Stille Nacht“ anstimmt statt seiner Ariette „Quando mi sei vicina“; beide gehören ja zum Typus der wiegenden Pastoralidylle. Aber dies sind alles individuelle Facetten eines Grundzugs: Jeder der Handelnden denkt vor allem an sich selbst.
Doch stärker als der oder die einzelne ist der Sog, der von Rossinis Musik ausgeht und all diese Individualisten und Egoisten immer wieder ins Ensemble zwingt – sei es, dass sie eine Arie durch eine kleine Choreographie umrahmen, sei es, dass sie wider Willen plötzlich in einer Chorus Line stehen oder beim Finale des 1. Aktes mit jedem Schlag der Triangel in die Knie gehen wie automatengetriebene Spielfiguren. Rossini als Komponist des heraufkommenden Maschinenzeitalters ist ein Denkmodell, das des Öfteren in der Literatur auftaucht und einen Teil der Szenen trifft. Daneben finden wir in der Inszenierung aber auch eine Grenzen sprengende, operettenhafte Anarchie. „War Rossini der erste Dadaist?“ fragt Dramaturg Fabian Oliver Bell in seinen anregenden Programmheft-Notizen im Hinblick auf die absurden Momente dieser Oper. Lukas Nolls Bühnenbild lenkt uns in diese Richtung, in dem es die Handlung vor überdimensionierten Barbier-Utensilien spielen lässt. Dr. Bartolo hat sein Arbeitszimmer in einem übergroßen Flacon, Basilio erscheint aus einer Creme-Dose und die Kontrahenten gehen mit Riesenschere, Riesenkamm und Riesenrasierpinsel aufeinander los. Sehr witzig ist, wie Almaviva alias Lindoro alias Alonso eine Klaviertastatur aus Stoff als vielfältiges musikalisches Ausdrucksmittel traktiert. Sehr gelungen finde ich auch, wie Rosina die Gewitterszene als Albtraum erlebt, in der Alonso sie dem berüchtigten Grafen Almaviva ausliefert. Zusätzlich gibt es aber auch noch ein an der Hinterwand der Bühne projiziertes Medaillon mit Videoanimationen von Ornamenten, Symbolen und Rosinas Gesicht. Nicht alles erscheint mir durchdacht, manches wirkt, als hätten die visuellen Gestaltungsmöglichkeiten den Ausstatter ähnlich überwältigt wie Rossinis Musik die Figuren. Auch die Stilisierung der Figuren zu Commedia-dell‘Arte-Figuren mit aufgeschminkten roten Wangen überzeugt nicht so recht. Bells Programmnotizen argumentieren mit der Abkehr von der Psychologie, wie sie später in Anknüpfung an die alte Theatergattung Igor Stravinsky mit „Pulcinella“ und Ferruccio Busoni mit „Arlecchino“ vollzogen. Aber sprengt nicht der Rausch der Musik eben diese traditionelle Typologie und die angestrebte Distanz zur Handlung? Und ist es nicht doch ein Fehlgriff, Marzellinas einzige Arie damit zu konterkarieren, dass Fiorello währenddessen recht spektakulär eine überdimensionierte Spinne erlegt? Müsste nicht eher am Ende die Spinne überleben und das Ensemble der Ichbesessenen in ihrem Spinnennetz zappeln?
So wirklich runden will sich das Konzept der Inszenierung am Ende nicht – und doch hinterlässt sie mehr Eindruck als die meisten anderen „Barbiere“, die ich schon gesehen habe. Das wache Gießener Weihnachtspublikum jedenfalls zeigt sich sehr angetan und hätte sicher noch deutlich länger applaudiert, wäre nicht der Eiserne Vorhang so schnell heruntergefahren. Wäre es nicht reizvoll, wenn Gießen diese anregende „Figaro“-Reihe fortführen würde – mit Darius Milhauds „La mère coupable“ (UA 1966) oder Giselher Klebes „Figaro lässt sich schneiden“ (UA 1973) oder Elena Lang „Figaro gets a Divorce“ (UA 2016)?
Andreas Hauff, 02.01.2020, Der Neue Merker