Figaro ist es, der berühmteste Universalbarbier und Ränkeschmied der Operngeschichte, der in Dominik Wilgenbus neuer Inszenierung von Gioachino Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ am Stadttheater Gießen die Drähte zieht.
Die Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, wer hier die Puppen tanzen lässt und auf wessen Bühne sie ihre exaltiert-histrionischen Triebe theatralisch ausleben: Figaro ist es natürlich, der berühmteste Universalbarbier und Ränkeschmied der Operngeschichte, der in Dominik Wilgenbus neuer Inszenierung von Gioachino Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ am Stadttheater Gießen die Drähte zieht. Er ist es, der das Signal zur Öffnung des Vorhangs gibt, vom Friseurstuhl auf dem Proszenium aus. Der große Erfolg der Premiere am Samstagabend verdankt sich einer schier unerschöpflichen Fülle von komödiantischen, slapstickhaften, choreographischen und schauspielerischen Einfällen, die der Regisseur zwingend dicht im Einklang mit der Musik inszenierte. Nicht irgendwie parallel oder analog zur Musik, wohlgemerkt, sondern direkt aus ihrem Bewegungscharakter heraus: so wurde das rasante Bühnengeschehen zu einem Teil der rasanten Partitur selbst.
Wilgenbus spielfreudige Fassung der Komödie um den verliebten Alten, Doktor Bartolo, der die junge Hübsche (und Reiche!), sein Pflegekind Rosina, gegen ihren Willen heiraten will, die aber stattdessen nach einer ganzen Reihe listiger Verkleidungs- und Verstellungsszenerien, von Figaro arrangiert, endlich glücklich mit ihrem Liebhaber, dem schmucken Grafen Almaviva vereint wird, betont absichtlich das Typenhafte der Figuren. Fern jeder Psychologisierung können so die einfachen Grundkonstellationen des komischen Theaters in immer neuen, wie improvisiert wirkenden und doch sorgsam einstudierten Choreographien ihre Wirkung entfalten. Das ist ganz im Sinne der „Commedia dell’arte“, einer im 16. Jahrhundert wurzelnden italienischen Tradition des Stegreiftheaters, der die Opera buffa des 18. und 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von wiederkehrenden Typen und Handlungsmustern verdankt, und auf die sich Rossini stärker wieder bezieht als etwa noch Wolfgang Mozart. Wilgenbus lässt kein Theater-Element ungenutzt, um die Figuren derart zu übertreiben, dass er das Ironische in ihnen regelrecht hervortreibt, das sonderbar mechanisch Mitreißende, das ja auch in der Musik angelegt ist. Zu dieser sich immer wieder fast zwanghaft in Steigerungen und Beschleunigungen manifestierenden Mechanik tanzen die Kaffeetassen und die Gitarren, ihrer Logik gehorcht aber auch der Frisierstuhl. Gerade diese augenzwinkernde (na gut, eher Laternenpfahl-schwenkende), ironische Distanz ist es wohl, die den echten Humor, das wahrhaft Komische und damit das herzhafte, gelöste Lachen dieses Abends ermöglichte.
Die Bretter dieser Bühne bildet nichts anderes als Figaros ins Überdimensionale vergrößerter Frisiertisch; das Publikum blickt in den gewaltigen (wenngleich etwas trüben und bereits gesprungenen) Frisierspiegel, der in dem bis ins Detail liebevollen und gelungenen Bühnenbild von Lukas Noll auch als Träger geheimer Liebesbotschaften und Reklameannoncierungen dient. Auf diesen Brettern agieren die Protagonisten oft bis ins slapstickhaft Überzeichnete, ihnen zur Seite stehen immer wieder kleine Choreographien entweder der Mitglieder des Männerchores (der ja in dieser Oper nur wenige Auftritte hat, diese allerdings umso effektvoller, etwa in dem großartig vielschichtigen, ans Chaotische grenzenden Finale des ersten Aktes) oder der anderen Darsteller. Mitunter verdoppeln Masken die Charaktere. Auch ein gewaltiges Rasiermesser (der Marke „Gioachino“) liegt bereit, das dann ohne Gnade in der Rasierszene des zweiten Aktes zum Einsatz kommt (anders als das Programmheft behauptet, hat das Stück überhaupt nur zwei Akte) – aber zu viele Details seien hier nicht verraten!
Die Sänger agierten durchweg hinreißend agil und komödiantisch. Sie konnten sich dabei auf die äußerst plastische, bewegliche und vor allem witzige Musik aus dem Graben verlassen, die ein aufmerksames Orchester unter Leitung des noch amtierenden Generalmusikdirektors, Michael Hofstetter, gestaltete. Naroa Intxausti als Rosina war pure Spiel- und Gesangsfreude. Da mussten sich die Männer um sie herum in jeder Hinsicht anstrengen. Gelegenheit dazu haben sie bekanntlich gleich bei ihren in angeberischer Weltmeistermanier gestalteten Auftrittsnummern. Als Graf gastierte der italienische Tenor Enrico Iviglia; seine erste Kavatine wirkte vielversprechend in ihrer durchaus zarten Leichtigkeit. Insgesamt aber fehlte es seiner Stimme aber doch dann immer wieder an Volumen und Schmelz, und wo Grga Peroš als überragender, mal stimmgewaltiger, mal leichtfertig-quasseliger Figaro im Terzett kurz vor Schluss die Koloraturen des Grafen nachäffte, hängte er ihn regelrecht ab. Neben Peroš, und wie dieser Mitglied des auf einen traurigen Rest von zwei Köpfen zusammengeschrumpften festen Sänger-Ensembles des Stadttheaters, überzeugte ein stimmlich souveräner und äußerst wendiger Tomi Wendt als Bartolo. Die sonderbar hysterischen, von Rossini in drastischer Vorhersehbarkeit komponierten Affektsteigerungen seiner inquisitorischen Befragung Rosinas über den Verbrauch von Briefpapier gelang ihm so rasant, dass man gleich selber das Blutdruckmessgerät benutzen wollte, das er sich dann schließlich anlegte. Gänzlich dramaturgisch leer ist eigentlich Don Basilios sich aufblähende und in Theaterdonner mündende Verleumdungsarie (in Form einer Spinne entwickelt Wilgenbus daraus aber die Idee einer die weitere Handlung begleitenden fixen Idee). Daniele Macciantelli, wie Iviglia erfahrener Belcanto-Sänger, gestaltete die Partie mit einem runden, lebendigen Bass. Auch die kleineren Rollen machten ordentlich was her: Heidrun Kordes sang die Marcelline, und Alexander Hajek übernahm dankenswerterweise und mit sichtlichem Vergnügen alle übrigen Nebenrollen.
Karsten Mackensen, 16.09.2019, Gießener Anzeiger