Am Abgrund - Gießener Allgemeine Zeitung
10.12.2018

Nein, in Brunnen hat er sich noch nicht gestürzt, um seine Angstzustände zu betäuben. Und auch sein Vater war kein pietistischer, den Sohn drängender Pastor, sondern Pädagoge. Aber Schauspieler Christian Fries kennt dennoch die Dämonen, die Jakob Michael Reinhold Lenz im Novellenfragment »Lenz« von Georg Büchner jagen. Dessen einzigen Erzähltext aus dem Jahr 1836 präsentierte Fries nun auf der taT-Studiobühne – halb szenisch, halb als Rezitation, aber zu 100 Prozent beeindruckend. Dass er am Ende, unter dem begeisterten Fußgetrappel der Zuschauer, das gelbe Reclamheftchen, das er Wort für Wort dargeboten hatte, triumphierend und mit einem erleichterten Grinsen auf den Boden schleuderte, hatte sich Fries redlich verdient. Respekt vor dieser Gedächtnisleistung, die doch über das bloße Auswendiglernen weit hinaus geht.

Eine mehr oder weniger leere schwarze Bühne, darauf in der Ecke nur ein Sessel, ein Mikrofonständer und eine Lampe – mehr braucht Fries nicht, um den langsam in den Wahnsinn abgleitenden »Lenz« zum Leben zu erwecken. Welche Dämonen den psychisch angeschlagenen Stückeschreiber in die Obhut des Übervaters Oberlin getrieben haben, bleibt diffus. Waren es die verunglückte Liebe, die Anforderungen des autoritären Vaters, die Erwartungshaltung der Gesellschaft – im Detail ist das unwichtig. Dieser Lenz nutzt jeden Anlass, in sich zu wühlen, sein Inneres zu analysieren, sich seinen Ängsten auszusetzen und sein Umfeld mit Selbstmordversuchen und irren Ausbrüchen zu schockieren.

Christian Fries lässt sein Publikum an den Kämpfen des Lenz, wenn wieder einmal der »Wahnsinn auf Rossen hinter ihm jagt«, unmittelbar teilhaben. Ihm 70 Minuten lang nicht gebannt an den Lippen zu hängen, ist für die Zuhörer schier nicht möglich. Keine Sekunde wirkt die Textflut ermattend – und das ist Fries’ Verdienst. Die Beschreibungen des Oberlin-Hauses und seiner Bewohner in den Vogesen sowie der Landschaft im finsteren Tal – all das belässt Fries geschickt im zurückhaltenden Erzählton. Aber wenn Lenz wieder einmal die namenlose Angst packt, scheint sie auch ihn zu ergreifen. Er zieht unheimliche Fratzen, Tränen schießen ihm in die Augen und seine Stimme wird schrill. Im Falsett gesungene Choralstrophen schaffen zusätzlich eine gespenstisch anmutende Atmosphäre. Mit dem Kopfteil einer Flöte schafft Fries eine Geräuschkulisse, die zudem die einzelnen Themenblöcke klar untergliedert: die Erweckungsszene, die Ästhetikdiskussion mit dem Besucher Kaufmann. Fries rezitiert die meiste Zeit im Mittelpunkt der Bühne stehend, mit T-Shirt und Jeans bekleidet schon optisch der Entstehungszeit des Textes entrückt.

Es geht Fries eigenem Bekunden nach darum, die psychische Situation des Dichters nachvollziehbar zu machen. Das gelingt ihm zweifelsohne. Und dennoch bleibt, nicht nur durch die vorab an die Zuschauer verteilten persönlichen Zeilen des Schauspielers, eine gewisse beruhigende Distanz zu dieser Figur spürbar. »Mir scheint, Lenz gibt ganz bewusst den Irren«, schreibt Fries. Einen, der ganz bewusst »Riesenzirkus« mache, sich schwer in den Vordergrund spiele, der unaushaltbar sei. Auch fast 200 Jahre nach seiner Entstehung, bietet der Text Anlass zum Nachdenken: auch über eigene Überforderungen, die Dämonen in jedem von uns und mögliche Wege aus einer persönlichen Krise.


Karola Schepp, 10.12.2018, Gießener Allgemeine Zeitung