Am Empfindlichsten fehlte der Beifall - Gießener Anzeiger
04.01.2021

Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters Gießen widmete sich der Tango-Tanzmusik / Für Teilnahme per Videoplattform war Fantasie gefragt

Der Champagner perlt im Glas, ein letzter prüfender Griff sichert den vollendeten Sitz der Fliege, die Sohlen der Tanzschuhe sind angeraut, in einer eleganten Halbdrehung schwebt das die Figur fließend betonende Abendkleid versuchsweise über das Parkett, während noch das Stimmgewirr der präludierenden Instrumente von der Bühne her einer erwartungsvollen Stille den Raum öffnet. Und dann geht es los, Licht aus, Auftritt des Dirigenten: Tango! Das Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters Gießen war ganz dieser kunstvollen Form der erotischen Kommunikation gewidmet. Tanz bestimmte das Programm, Verführung, Geselligkeit, Sektlaune bis hin zu Donau-Walzer-Anklängen. Und buchstäblich jeder konnte dabei sein!

Tango symbolisiert Kontakt, wie Generalmusikdirektor Florian Ludwig in seiner wie stets auf freundliche Weise informativen Moderation erläuterte. Und auf eine fast paradoxe Weise war das durchaus erlebbar – paradox deshalb, weil das Konzert kontaktlos stattfinden musste, körperliche Nähe verhindern und soziales Beisammensein gerade absichtlich vermeiden sollte. Teilnehmen konnte (und kann noch) gerade deswegen jeder, denn das Konzert lässt sich über eine Videoplattform abrufen. Nur in der Fantasie also konnte die eingangs imaginierte Szenerie stattfinden. Oder aber doch leibhaftig – denn so war es ja jedem überlassen, wirklich während des Konzertgenusses am Glas zu nippen, ein Kaviarhäppchen (oder einen eingelegten Hering) zu verspeisen, im heimischen Wohnzimmer ein Tänzchen zu wagen oder einfach nur etwas mitzuschunkeln. Wer sich das traute, konnte vielleicht trotz aller Widrigkeit dieses Neujahrskonzert zu einem ungewöhnlichen Ereignis machen – im Parkett des Theaters wäre das jedenfalls so nicht möglich gewesen.

Wie gesagt, etwas Fantasie ist dazu natürlich vonnöten, der Kamerablick aufs Orchester, die Klänge aus der hauseigenen Musikanlage ersetzen nicht das Live-Ereignis, ersetzen nicht das Sehen-und-Gesehen-Werden. Am Empfindlichsten aber fehlte vielleicht der Beifall, am Ende der vielfach mitreißenden Stücke und schon gar am Ende des Konzerts – das fiel gleichsam jedes Mal in eine unpassende, atmosphärisch unangenehm ernüchternde Leere. Dabei hatte Ludwig ein tolles Programm zusammengestellt, das komplett – da war man teils doch erstaunt – mit dem Tango zu tun hatte. Das galt sogar für die Polka und die Sousedká aus Antonín Dvoráks Tschechischer Suite, op. 39. Gerade der lakonisch-melancholische Anfang der Polka ließ sich mit der Grundidee des Tangos in Verbindung bringen (mit Ludwigs Worten „ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann“), aber auch der sinfonische Klang der walzerartigen Sousedká konnte in diese Richtung gehört werden und noch die ebenfalls im Dreier dahinwirbelnde Mazurka aus Stanislaw Moniuszkos Oper „Halka“ – obwohl ein Tango doch in der Regel in einem Zweiertakt steht. In diesem Sinne waschechte Tangos bildeten die Rahmung des Konzerts – mit dem „Blue Tango“ von Leroy Anderson zu Beginn und dem vielleicht berühmtesten aller Tangos am Schluss, nämlich dem „Libertango“ von Astor Piazzolla. „Freiheit“ klingt in dem Wort „libertad“ mit an, eine Freiheit, die den körperlichen Ausdruck betrifft, aber auch eine Geisteshaltung, wie sie hinter Piazzollas Komponieren zu spüren ist, im Sinne einer Unabhängigkeit von kompositorischen Normen, in der zwanglosen Überschreitung von Genregrenzen und Kompositionsstilen. Dies zeichnet in besonderem Maße das Konzert für Bandoneon und Orchester „Aconcagua“ aus, den künstlerischen Höhepunkt des Abends. Solist war der Norweger Per Arne Glorvigen. Lebendiger kann man sich die Kunstwelt dieser Tango-Musik mit mal chopinschen, mal neoklassizistischen Einschlägen kaum vorstellen, so dicht, so authentisch nah kommt einem dieses oft melancholische und dann wieder ausgelassene Instrument mit dem leisen Knetern seines Balgs, mit dem Klappern der Knöpfe in Glorvigens virtuoser, intensiver Interpretation. Der Internationalität des Tangos verdankten sich zwei Gesangsnummern: Da gab es einmal das wunderschöne Lied „Satumaa“ („Märchenland“) von Unto Mononen, dargeboten stilecht sehnsüchtig von Bariton Tomi Wendt. Das Lied gilt als der finnische Tango schlechthin. Und die Mezzosopranistin Sofia Pavone gab Carmens berühmte „Habanera“ von Georges Bizet – das war afro-kubanische Leidenschaft pur, unüberhörbar auf der erotischen Seite der Tango-Einflüsse. Was noch? Ach ja, einen echten Strauss’schen Donau-Walzer, jedenfalls zuerst, dann aber zu einem „Donau-Tango“ mutierend – eine Komposition von Andres Reukauf, die mit viel Spaß eine unmögliche Kreuzung vornimmt, ein bisschen, als würde ein Bär mit einer Ente tanzen.

Auf einen eigenen Redebeitrag hat Intendantin Cathérine Miville in diesem Jahr verzichtet – der Auftritt des Orchesters ist wohl Botschaft genug: Alle schauen mit Optimismus und Hoffnung auf das Neue Jahr, und alle – das gilt sicherlich auch für das Publikum – freuen sich auf richtige Auftritte in Liveatmosphäre.


Karsten Mackensen, 04.01.2021, Gießener Anzeiger