Carmen neu interpretiert - Tanznetz.de (08.06.2019)
08.06.2019

Die Geschichte bleibt die altbekannte. In die Inszenierung seiner "Carmen" fügt Ivan Strelkin dann aber einige Brüche ein - ein lohnendes Unterfangen.

Die Geschichte ist alt, die Figuren sind beinahe archetypisch. Eine schöne und unabhängige Frau ist die Verführerin, der Mann wird zum passiven Objekt ihrer Verführungskunst. Soweit die Männerfantasie, geschaffen von Prosper Merimée Mitte des 19. Jahrhunderts. Das wirkliche Leben verläuft meist anders, aber diese Erzählung hat samt der rasanten Musik aus George Bizets gleichnamiger Oper (1875) geradezu Kultcharakter. Der russische Komponist Rodion Shchedrin hat die musikalische Vorlage später dekonstruiert (1967), er nutzte die bekannten Musikmotive für die Umwandlung in ein modernes Kammerspiel. Und der russische Regisseur und Choreograf Ivan Strelkin hat sich davon zu einer tänzerischen Neuinterpretation inspirieren lassen, die am Donnerstag auf der taT-Studiobühne des Gießener Stadttheaters Premiere hatte.

Damit wurde das Kernprogramm des Festivals TanzArt ostwest in Gießen zum 17. Mal eröffnet. Gastchoreograf Strelkin hat sein Tanzstück mit Teilen der Tanzcompagnie Gießen (TCG) neu einstudiert. Die Uraufführung war im Mai 2018 im Folkwang-Tanzstudio Essen, wo er sein Tanz- und Choreografie-Studium absolviert. Dass der ausgebildete Schauspieler und Regisseur schon einiges an Berufserfahrung hat, das zeigte sich an seiner Überarbeitung für Gießen. Deutlich erkennbar sind die darstellerischen Momente, die diese Aufführung prägen.

Ausgangspunkt ist die Bühne, die flach ist, also ohne Hinterbühne oder seitliche Abgänge auskommt. Ausstatterin Sandra Li Maennel Saavedra hat einen Wandeinsatz geschaffen, der mit einer Tür versehen das Bühnenbild fast zum Guckkasten macht. Die Auf- und Abgänge erfolgen zusätzlich durch eine seitliche und die Einlass-Tür. Die Farbe Rot dominiert die Wand und die Kleidung, nur der Fußboden ist weiß.

Das Tempo ist hoch, alles geschieht so rasend schnell, dass anfangs unklar bleibt, wie viele AkteurInnen eigentlich mitmischen. Es gibt drei Rollen und sechs TänzerInnen: Carmen, José und Torero, wobei die beiden Männerrollen nacheinander auftreten und jeweils von denselben drei Tänzern dargestellt werden. Die drei Frauen bleiben durchgängig Carmen. Zur Sicherheit stehen die Namen auf den Kostümen geschrieben. Ständig wirbeln alle umeinander, doch entsteht so manches Mal der Eindruck, dass sie verschiedene Seiten einer Person verkörpern. Magdalena Stoyanova ist die kraftvoll energische Carmen, die die Männer an der Nase herumführt und mit gekonntem Griff flachlegt. Julie de Meulemeester ist die unendlich Verliebte und Laura Ávila diejenige, die vor Eifersucht tobt und aus ihrem Traum nicht aufwachen kann. Sven Krautwurst gibt den männlichen Gegenpart, der zwischen Macho-Habitus und Genervtsein pendelt. Michael D'Ambrosio ist als José den weiblichen Reizen hilflos ausgeliefert, hingegen als Torero beweist er Standhaftigkeit. Patrick Cabrera Touman hat seinen großen Auftritt als spanisch sprechender Erklärer des Stierkampfes, doch über die dramatischen Folgen ist er entsetzt. Plötzlich taucht er im Flamenco-Kleid auf, in dem zuvor die Carmen-Tänzerinnen ihre fulminanten Kurzauftritte hatten. Soviel Gewalt bringt Tod und Verzweiflung. Die Trauer um den toten Torero ist groß.

Der Regisseur Strelkin baut einige Brechungen in das Bühnengeschehen ein. Zum Flamencokleid gehört immer auch der Garderobenständer, der durch den Raum geschoben wird. Die TänzerInnen treten an einigen Stellen aus ihrer Rolle heraus, betrachten und kommentieren das Geschehen wie eine Probe im Ballettsaal. Am Ende zieht einer nach der anderen die Kostüme aus und die Probenkleidung an. Bis auf eine, die sich mit ihrer Rolle so stark identifiziert, dass sie nicht mehr aufhören mag. Angefeuert vom Beifall aus den Lautsprecherboxen. Das Gießener Premierenpublikum war hingerissen und spendete langanhaltenden Applaus.


Dagmar Klein, 08.06.2019, Tanznetz.de