Das Rätsel löst sich singend - Gießener Anzeiger
20.10.2020

Premiere im Stadttheater: Das A-Cappella-Quartett „Die Schmachtigallen“ ist diesmal in einem Gruselschloss gefangen

Es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres für einen selbstbewussten Sänger, als an den Strippen eines perfiden Regisseurs zu hängen. Doch den „Schmachtigallen“ widerfährt dieses Drama – und so singen sie in ihrem neuen Abenteuer mit dem Titel „Das Vermächtnis“ plötzlich zu langsam, zu schnell und zwischenzeitlich sogar rückwärts, ganz wie es ihrer bösartigen Gegenspielerin gefällt. Die Szene der vermeintlich künstlerischen Fremdbestimmung wurde zu einem besonderen kleinen Glanzstück der um das A-Cappella-Quartett gestrickten Gruselkomödie, die am Sonntagabend Premiere im Stadttheater feierte – und beim Publikum großen Anklang fand.

Wie vor zwei Jahren an gleicher Stelle betteten die vier stimmstarken Herren einen gelungenen musikalischen Stilmix von Klassik-Arien über 1920er-Jahre-Couplets bis zu modernen Popsongs in einen unterhaltsam-gewitzten Plot ein. Wieder führte dabei Wolfgang Hofmann Regie, wieder steuerte er auch die Geschichte bei – die die vier Sänger wie in dem ersten Abenteuer mit dem Titel „Mord a cappella – Unter Verdacht“ in ein abgelegenes schottisches Schloss führte. Wer damals bereits dabei war, wird sich an die prächtigen, jedes erdenkliche Klischee erfüllenden Kulissen (Bühne: Lukas Noll) erinnern: schwarz-weiße Tapeten, alte Ölgemälde an den Wänden, ein mächtiges Treppengeländer für effektvolle Auf- und Abgänge sowie natürlich ausreichend Türen. Damals blieb die Inszenierung, angelehnt an alte Edgar-Wallace-Krimis, gänzlich Schwarz-Weiß. Diesmal bringen die vier Sänger Roland Furch, Martin Ludwig, Severin Freund und Jan Hoffmann gleich zu Beginn Farbe ins Spiel, wenn sie die eingestaubten Kulissen von den weißen Laken befreien und mit giftgrünen und knallroten Flüssigkeiten auf ihr Erbe anstoßen.

Mit Faktotum Klaus

Denn die „Schmachtigallen“ finden sich in dem Herrenhaus zusammen, um singend zu beratschlagen, was sich damit so alles anstellen ließe. Da hat allerdings jeder von ihnen eine eigene Vorstellung: von der Seniorenresidenz für musizierende Künstler über einen Talentschuppen bis zu einem Biobauernhof reichen die Ideen. Jan Hoffmann kann sich gar ein etwas anrüchiges Resort mit Handschellen auf den Zimmern vorstellen, angesichts der Innenausstattung des Hauses nach dem Motto: „50 Shades of Grey“.

Und so singen sich die „Schmachtigallen“ mit den inhaltlich passenden Titeln von Vorschlag zu Vorschlag, erneut begleitet vom Faktotum des Gemäuers: dem taubstummblinden Diener Klaus (Andreas Sommer) sowie den im Orchestergraben positionierten, weiteren „Schmachtigallen“-Bandmitgliedern Stefan Schneider (Bass, Gitarre) und Simon Zimbardo (Schlagzeug).

Doch dabei hat das Quartett nicht mit der verspätet erscheinenden Brigitte Schmitt (Marie-Louise Gutteck) gerechnet, der fünften Teil-Erbin des Gemäuers. Die durchaus laszive Zwillingsschwester der verstorbenen Hausherrin verdreht nicht nur zwei von ihnen den Kopf, sondern führt auch Übles im Schilde – was Regisseur Hofmann die Möglichkeit gibt, ein paar Effekte einzustreuen, die augenzwinkernd auf das Gruselgenre anspielen. Da blitzt und donnert es plötzlich gewaltig, ein Koffer macht sich selbstständig und die Bilder fallen mit einem Schlag gleichzeitig von den Wänden.

Es ist ein Zeichen aus dem Jenseits: Die verstorbene Schwester Brigittes meldet sich „von der anderen Seite“ zu Wort. Sie wird bei einer Séance angerufen, geheime Zeichen deuten auf ein Geheimnis hin – und schließlich stecken die vier Sänger in dem Spukschloss fest. Befreien können sie sich natürlich nur mit Gesang – allerdings fünfstimmig, so gibt es ihnen die durchtriebene Barbara vor.

Bis es schließlich gelingt, dem Fluch zu entkommen, haben die „Schmachtigallen“ 19 Titel auf die Bühne gebracht, quer durch die Genres, immer stimmstark, originell arrangiert und mit einem eigenen Dreh. Ob da nun von Jan Hoffmann die „Sex Bomb“ nach Art von Tom Jones besungen, das neapolitanische Volkslied „Funiculì, Funiculà“ vierstimmig vertont oder Zarah Leanders „Nur nicht aus Liebe weinen“ aus Männersicht geklagt wird. Musikalisch am eindrucksvollsten sind dabei immer die Titel, in denen die vier Sänger ganz ohne instrumentale Begleitung auskommen.

Dass sie dabei schauspierisch bisweilen etwas ungelenk wirken, auch im Gegensatz zu ihrem souveränen weiblichen Gegenpart Marie-Louise Gutteck, fällt in dieser Inszenierung nicht weiter ins Gewicht. Vielmehr zeigen sie mit „Das Vermächtnis“ einmal mehr, dass die „Schmachtigallen“ ein Bühnenformat für sich entwickelt haben, in dem Musik und Story eine überzeugende Verbindung eingehen. Am Ende gibt es drei Zugaben, darunter die „Gießen-Hymne“ – und die Hoffnung, dass dies vielleicht doch kein „Vermächtnis“ war, sondern irgendwann ein dritter Teil der A-Cappella-Abenteuer folgen wird.


Björn Gauges, 20.10.2020, Gießener Anzeiger