Der vierte Satz wurde zum Triumph - Gießener Anzeiger
08.10.2020

Zweites Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters mit Brahms‘ erster Sinfonie / Aufzeichnung für Radiosender hr2

Zwei Dinge waren bemerkenswert an diesem Abend: Das Orchester spielte Brahms! Und: das Orchester spielte Brahms! Und wie! Das zweite Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters am Dienstag im Stadttheater machte noch einmal eklatant deutlich, was für eine gute Entscheidung die Ernennung von Florian Ludwig zum Generalmusikdirektor für das Haus und für das Publikum bedeutete. Er setzt konsequent eine neue programmatische Linie um, die einen Schwerpunkt auf Romantik und Moderne legt – und er schafft es hörbar, sein Orchester dafür zu begeistern.

Johannes Brahms stand also auf dem Programm, die erste Sinfonie, in voller Besetzung einschließlich der drei Posaunen, die man für den grandiosen Schlusssatz braucht. Trotz Hygiene- und Abstandsvorschriften gab es keine Abstriche gegenüber der originalen Programmgestaltung – mit einer Besonderheit: Das Programm wurde auf zwei Auftritte verteilt. Die erste Vorstellung verband die Sinfonie mit Richard Strauss’ Oboenkonzert (Solistin: Viola Solmsen), und die zweite mit Alois Bröders „Sept nouvelles variations“ aus dem Jahr 2012. Der Rezensent hat den zweiten Auftritt besucht und kann nur darüber berichten. Indes wird eine Aufzeichnung der Konzerte durch den Hessischen Rundfunk ein Nachhören auf hr2 ermöglichen.

Man muss nicht immer mit Gewalt nach dem inneren Zusammenhang der ausgewählten Stücke fragen, aber diese Folge war doch trotz der disparaten Epochen unbedingt schlüssig: Es ging um die kompositorische Auseinandersetzung mit Tradition. Über den buchstäblich post-modernen Charakter des Strauss-Konzerts soll hier nicht viel gesagt werden. Bröders Komposition weist ebenfalls Elemente teils nostalgischer, teils aufbegehrender Reminiszenz an vergangene Musik auf.

Die sieben Variationen, besetzt für ein farbenreiches Orchester mit Celesta und Harfe, lassen hinter ihren mal rauen und verstörten, mal ins Große auftrumpfenden Klängen in wechselnder Tiefenschärfe Musikfragmente hervortreten, von Offenbach etwa oder von Mahler, auch Schumann, Brahms und Schubert sind dabei. Natur und Romantik sind als Erinnerung in dieser Musik präsent – unüberhörbar ist aber auch das Misslingen, das Zerbrechen dieser Konzepte, die nur noch als ein Als ob aufscheinen. Letztlich zeigt Bröders Komposition das Scheitern des Versuchs einer Versöhnung – zu deutlich bleiben die Zitate, zu wenig eigenständig wächst daraus Neues.

Immer nach vorne

Das Gegenteil ist bei Brahms der Fall, der sich bekanntlich in seiner Sinfonie intensiv mit dem Erbe Beethovens auseinandergesetzt hat. Florian Ludwigs Interpretation zeigte, wie man sich von den Firnisschichten metaphysisch-schwergewichtiger Romantik-Interpretationen dieses tausendfach gespielten Werkes freimacht und zugleich die komplexe Struktur der gar nicht durchwegs eingängigen Komposition transparent gestaltet. Ohne Zögern und Zaudern, ohne Furcht vor dem pochenden Puls der Pauke startete die Unternehmung eher frisch, und auch im weiteren Verlauf blieben die Tempi zwar beweglich, aber immer nach vorne gerichtet.

Verblüffend klassisch gestaltete das Orchester die Phrasierungen, und bei aller drängender, mühevoll gebremster Energie, die sich auch unmittelbar in Ludwigs Haltung ausdrückte, blieb immer wieder Luft für tänzerische, beschwingte Bewegung. Nur dem zweiten Satz hätte man vielleicht einen etwas breiteren Pinsel gewünscht, aber zum Gesamtkonzept passte das auch so. Der vierte Satz wurde zum Triumph. Die Pizzicati auf den Punkt, das Hauptthema durchaus schwelgerisch, aber gut gelaunt, das Alphornthema in unpathetischer Schönheit und dann der Choral: Immer wieder ließ Ludwig seine Musiker auch groß aussingen. Die Strahlkraft dieser Aufführung resultierte dabei nicht aus Klangballung, sondern aus Transparenz und Sorgfalt.


Karsten Mackensen, 08.10.2020, Gießener Anzeiger