Die Eleganz des Kampfes - Gießener Anzeiger (08.06.2019)
08.06.2019

Wer liebt, sieht rot: Tanzpremiere des Stücks „Carmen“ mit sechsköpfigen Ensemble auf der taT-studiobühne

So wie sich Stiere reizen lassen, wenn sie rot sehen, so geht es auch dem tragisch liebenden José. Und der an seinem Verlangen zu einer unerreichbaren Frau zugrunde gehende Soldat sieht eine Menge rot – im Tanzstück „Carmen“, das am Donnerstagabend auf der Bühne des taT Premiere feierte. Der aus St. Petersburg stammende Gastchoreograph Ivan Strelkin taucht den gesamten kulissenlosen Bühnenraum in die Farbe der Liebe, des Bluts und der Rachsucht. All das wird auch in seinem einstündigen Tanzabend verhandelt, in dem er drei Männer und drei Frauen in den Geschlechterkampf ziehen lässt. Und der fällt bei diesem Ensemble des Stadttheaters elegant, poetisch und kraftvoll gleichermaßen aus.

Mit „Carmen“ schuf Komponist Georges Bizet im Jahr 1875 ein Werk, das nicht nur bis heute zu den meistaufgeführten Opern der Welt zählt und dabei zahlreiche wunderschöne, hochemotionale Titel aneinanderreiht, sondern das mit seiner tragischen Liebesgeschichte um die selbstbewusste Zigeunerin Carmen und den ihr verfallenen Soldaten José auch immer wieder inhaltlich neu verhandelt wurde. Bei Ivan Strelkin, der für seine Choreographie die musikalische „Carmen“-Suite für Streichorchester und Schlagzeug von Rodion Shchedrin aus dem Jahr 1967 verwendet, geht es dabei bisweilen überraschend aggressiv zu. Tänzer Sven Krautwurst beginnt alleine auf der Bühne mit wilden Tritten, die Arme schnellen wie bei Handkantenschlägen nach vorne, er trommelt sogar wutentbrannt mit beiden Fäusten auf den Theaterboden. Doch wie fortgeblasen ist alle Kraftmeierei, wenn er plötzlich die Frau seines Begehrens erblickt. Starr und hilflos steht er vor ihr, seine Hand wird wie willenlos von ihrem Körper angezogen, um schließlich unkontrolliert zu zittern – bevor José, erschreckt von der Wirkung dieser Frau und vermutlich auch von sich selbst, das Weite sucht.

Es ist der Beginn eines permanenten Spiels von Annäherungen und Abstoßungen, dass sich lose an den Motiven der „Carmen“-Vorlage orientiert. Krautwurst sowie seine Mitstreiter Patrick Cabrera Touman und Michael D’Ambrosio geben allesamt den José, der sich am Aufdruck auf seinem T-Shirt ablesen lässt. Ihre Antipodinnen sind Laura Ávila, Julie de Meulemeester und Magdalena Stoyanova, die eine dreifache Carmen verkörpern – im blutroten Kleid mit aufgedrucktem Carmen-Schriftzug.

So werden in unterschiedlichen Paar- und Gruppenkonstellationen die Aggregatzustände der Leidenschaften durchgespielt. Das José-Trio wird mal von den Frauen gelockt, dann wieder abgewiesen, es wird körperliche Nähe gesucht, Zärtlichkeiten werden ausgetauscht, um bald schon wieder mit rüden Tritten und Schlägen Distanz zu schaffen. Was einen Verweis auf den Stierkampf – der Schauplatz des Dramas ist bekanntlich Sevilla – in Strelkins Stück nahelegt.

Tatsächlich bricht irgendwann Cabrera Touman aus dem Ensemble aus, entledigt sich seines roten Trikots, um vom Bühnenrand aus auf Spanisch einen Monolog über die Schönheit des Stierkampfs zu halten. Über die Eleganz und Anmut, mit der die Matadore ihre gefährlichen Gegner durch die Manege locken, bevor sie die tödlichen Stiche setzen. Und schon tobt das Ensemble durch die kleine Kellerbühnen-Arena wie eine Herde wilder Bullen. Die Männer tragen nun Shirts mit Torero-Aufdruck. Und allesamt scheinen die Tänzer bei ihren wilden Sprüngen in der Luft zu stehen. Überhaupt zeichnet sich der Abend durch seine enorme körperliche Intensivität aus, das Sextett erweist sich als dabei als enorm homogen, die Bewegungen wirken spielerisch und leicht, sogar wenn die sechs Bühnenkünstler spektakulär durch die Luft segeln.

Und bei all diesem von Körpern erzählten Beziehungsdrama baut Strelkin (Bühne und Kostüme: Sergei Illarionov und Sandra Li Maennel) auch noch eine Portion Humor in seine „Carmen“ ein. Irgendwann fährt ein Kleiderständer durch die einzige Kulissentür, in der er steckenbleibt, weil sich die Tänzer nicht über den Fortgang des Geschehens einigen können. Ein Spiel im Spiel, das mit Applaus vom Band beginnt – und mit noch mehr Applaus vom Band endet. Das angetane Gießener Publikum hat aber keine Mühe, die Lautstärke anschließend klatschend und johlend weiter aufzudrehen.


Björn Gauges, 08.06.2019, Gießener Anzeiger