Die Illustration eines Gefühls - Gießener Anzeiger
07.03.2020

Das Stück "Snakedriver" erzählt in der Gießener taT-Studiobühne von der Tristesse einer Landjugend - in Sprache, Musik und Zeichnungen.

Das Landleben kann herrlich sein - oder die Hölle. Es kommt eben ganz auf die Perspektive an. Während Zeitschriften wie "Landlust" sich seit einigen Jahren millionenfach verkaufen, weil Großstädter damit vom unverdorbenen Idyll im Grünen träumen, sehnen sich viele dort aufwachsende Jugendliche danach, die Enge ihrer weltfernen Umgebung zu verlassen. Der Traum von der Flucht vor den Verhältnissen auf dem Dorf ist ein Motiv, das vielfach künstlerisch aufgegriffen wurde - und jetzt auch vom Gießener Stadttheater verhandelt wird. Bleiben oder gehen - darum geht es im Schauspiel "Snakedriver" von Christina Kettering und Markolf Naujoks, das am Donnerstagabend seine Uraufführung auf der taT-Studiobühne feierte.

Einer ist schon weg

Hier sind es drei junge Leute, die vom Leben, der Langeweile und den Konflikten in einem namenlosen Dorf berichten: Leonie (Paula Schrötter), Marcus (Magnus Pflüger) und Luis - von dem allerdings nur die Stimme (Regisseur Markolf Naujoks) zu hören ist. Denn der junge Außenseiter hat diesen deprimierenden Ort bereits verlassen und erzählt nun in Rückblenden aus dem Off von den Erfahrungen und Gefühlen, die für ihn mit Abschied und Aufbruch verbunden sind. So wird "Snakedriver" tatsächlich zum Zwei-Personen-Stück, dessen besonderer Reiz aber vor allem in einem visuellen Experiment besteht.

Der Kölner Zeichner Ole Tillmann hat für diese Inszenierung beeindruckende Illustrationen entworfen, die großformatig auf den Bühnenvorhang und in den Bühnenhintergrund projiziert werden. Es sind ungemein eindrückliche Bilder, meist in Schwarz-weiß, die perfekt die Stimmung dieses Handlungsraumes einfangen und gleichzeitig wichtige Details sichtbar machen. Zu sehen sind so Häuser, Straßen, Felder und Wälder. Das ländliche Naturidyll und der Verfall. Das jugendliche Trio bei nächtlichen Spritztouren im Auto und eine unkenntliche Masse an Dorfbewohnern. So kommt das rund 70-minütige Stück zunächst lange ohne ein einziges gesprochenes Wort aus. Stattdessen entwerfen die stilistisch zwischen Edward Hoppers Ölgemälden und düsteren Gothic-Comics angesiedelten Zeichnungen eine bemerkenswert plastische Szenerie, die durchaus auch in den Fluren der Rabenau oder im entvölkerten Vogelsberg spielen könnte.

Musikalisch begleitet wird dieser Bilderreigen von Magnus Pflüger, der auf der Bühne gefühlvolle Klavierstücke beisteuert. Außerdem werden immer wieder elektronische Klänge eingespielt (ebenfalls Markolf Naujoks), die sich im Spannungsfeld zwischen Melancholie und latenter Bedrohung bewegen.

So setzt sich die Geschichte um das jugendliche Trio erst langsam zusammen. Zunächst schloss die Bäckerei, dann machen die Schule und der Supermarkt dicht. Der Jugend des Dorfs blieb als Treffpunkt nur die Tankstelle, dem einzigen Ort in der Umgebung, an dem nachts noch etwas los war, und der ihnen zum Fluchtpunkt wurde. Ein anderer sind ihre Autos, mit denen sie nachts über die Landstraßen rasen, um das Adrenalin aus sich herauszukitzeln. Und dann waren da noch die Dorffeste, die "früher eigentlich ständig" stattfanden, wie sich Marcus erinnert. Noch eine Gelegenheit, um sich günstige Rauschzustände zu verschaffen und wie Leonie viel zu viel Schnaps zu trinken.

Doch ihre Party ist lange vorbei. Berge von Luftschlangen auf dem Boden, ein paar leere Flaschen und Chipstüten am Bühnenrand zeugen davon. Marcus und Leonie bedienen sich nun an den übrig gebliebenen Resten, während sie sich gleichzeitig an markante Episoden aus dem Dorfleben, an den Verfall, an prägende Familienepisoden erinnern. Und an die Spannungen untereinander, die sich bisweilen auch in Gewalt entluden. Etwa, wenn das "aggressive Großmaul" Nico, ein Kumpel aus der Jugendgang, plötzlich ausrastete. Illustriert wird diese Episode mit einem Bild Ole Tillmanns, der einen muskelbepackten Oberkörper zeigt, mitsamt bedrohlichem Schraubenschlüssel in der Hand.

Regisseur Naujoks erzählt in seinem vom gleichnamigen Song der britischen Indie-Rockband "The Jesus and Mary Chain" inspirierten Drama "Snakedriver" mehr von einem Gefühl als von einer Geschichte. Das Erzähltempo seiner Inszenierung ist betont langsam und schleppend, bisweilen auch zu sehr. Doch gelingt es ihm und seinen Darstellern gleichzeitig, mit wenigen Worten eine ganze kleine Welt entstehen zu lassen. "Irgendwo muss man ja reinpassen im Leben", sagt die ratlose Leonie. Und weiß doch selbst, dass sie schon lange nicht mehr dazugehört.


Björn Gauges, 07.03.2020, Gießener Anzeiger