Ein rechter Betrüger - Gießener Allgemeine Zeitung
20.01.2020

Thomas Goritzki zieht Molières »Tartuffe« die Perücke vom Kopf und rückt die bitterböse Komödie ins Deutschland des Jahres 2020. Etwas Besseres kann dem Stück kaum passieren, auch wenn die Anspielungen auf AfD-Verhältnisse und heuchelnde Rechte doch zuweilen etwas arg mit dem Holzhammer daherkommen. Aber Spaß macht das Zuschauen auf jeden Fall.

Molière hat mit seinen Komödien stets das Geschehen seiner Zeit aufs Korn genommen. In »Tartuffe« etwa rechnete er mit der Frömmelei am Hof Ludwigs XIV. ab und erntete prompt Aufführungsverbote. Heute, rund 350 Jahre später, spielt fromme Heuchelei, zumindest hierzulande, keine große Rolle mehr. Es gibt andere Wölfe im Schafspelz, deren Umtriebe es zu schmähen gilt. Und das tut Regisseur Thomas Goritzi im Großen Haus des Stadttheaters, indem er aus dem scheinheilig-frömmelnden Betrüger Tartuffe den Prototyp der neuen, aalglatten Rechten macht. Ohne dass der Name der Partei auf der Bühne jemals fällt (wenn auch im Programmheft), ist die Zielrichtung klar. Dieser Tartuffe ist ein AfD-Politiker, mit blauem Anzug, Deutschlandfahne als Einstecktuch und dem Smartphone - der Social-Media--Waffe der Jetztzeit - samt Deutschlandlied als Klingelton stets am Ohr.

Lukas Nolls Bühnenbild bietet den spielfreudigen Rahmen für die turbulente, mit Slapstick-Einlagen gespickte Komödie mit jeder Menge Türenknallen, hohem Tempo und bis in die Nebenrollen markant gezeichneten Typen. Und es unterstreicht die auf Heute gerichtete Ausrichtung der Inszenierung. Nolls Kostüme, die mit Wendeltreppe und Kellerabgang variabel nutzbare Villa mit Blick ins Grüne - alles atmet den Stil der Gegenwart. Nur Dienerin Flipotes Kostüm lässt kurz barocke Reminiszenzen aufblitzen.

Goritzki hat Moliéres, von Rainer Kohlmayer übersetzte Verse gehörig aufgemischt, um das Vokabular der Rechten, Symbole wie gelbe Westen und die Namen Gauland und Höcke unterzubringen. Und das funktioniert von »Vogelschiss« bis »Wir werden sie jagen« durchaus geschmeidig. Sogar die Merkel-Raute kommt zum Einsatz, als die Familie Orgons, in dessen Haus sich Tartuffe eingenistet hat und das er mit List und Heuchelei übernehmen will, nach turbulentem Treiben wieder Hoffnung schöpft und seufzt: »Wir schaffen das!«.

Prügel statt Worte

Gewalt spielt in dieser Familie, deren Oberhaupt Orgon an Tartuffes Lippen hängt, eine große Rolle. Wo Worte fehlen, wird geohrfeigt und getreten, und auch Tartuffes liederliches Anbaggern der Hausherrin steigert sich hier zur Vergewaltigung der Gattin, während der Gatte zwar schockiert, aber tatenlos lauschend unter dem Tisch hockt. Im Jahr 2020 muss es eben ein bisschen drastischer sein, um Wirkung zu erzielen. So wie ihre Sprache zunehmend verroht, scheinen sich die Menschen an alltägliche Gewalt zu gewöhnen, ist Goritzkis Botschaft. Hier brennt - im Bühnenhintergrund durchaus im wörtlichen Sinne - die Hütte.

Und auch wenn am Ende mit der Festnahme Tartuffes alles gut zu werden scheint, bleibt ein Beigeschmack. Denn Tartuffe plaudert angeregt mit dem Polizeibeamten und schießt ein Selfie mit ihm. Auch Justiz und Polizei lassen sich von rechter Heuchelei blenden, will Goritzki damit wohl zeigen. Da bleibt nach unterhaltsamen zwei Stunden so manchem Zuschauer das Lachen im Halse stecken.

Lukas Goldbach liefert als schmieriger Heuchler Tartuffe eine überzeugende Vorstellung. In seinem mittelblauen Anzug ist er der rechtsgesinnte Betrüger, ein Parasit, der bei seinen Mitmenschen das Böse hervorbringt. Seine Bewegungen wirken unbeholfen, seine Sprachfähigkeit eingeschränkt - doch seine Worte sind so hinterhältig wie Tretminen. Und mit Orgon, den Thomas Wild als prügelnden Schwächling und naiven Egoisten mit viel Brüllerei spielt, hat dieser Tartuffe allzu leichtes Spiel.

Das Geschenk Molières, jeder noch so kleinen Rolle einen Paradeauftritt zu verschaffen, nimmt der Rest des Ensembles dankbar an. Unvergesslich der Auftritt von Roman Kurtz als Madame Pernelle, die im Hahnentrittkostüm zur Kampfhenne mutiert. Carolin Webers schlagfertige wie aufmüpfige Dienerin Dorin gehört zu den weiteren Höhepunkten der Inszenierung. Paula Schrötter überzeugt als Halbwesen aus Gerichtsvollzieher und Polizist, Johanna Malecki schluchzt glaubhaft als heillos überforderte Tochter Marianne, Stephan Hirschpointner darf als ihr zorniger Bruder Damis ordentlich poltern. Pascal Thomas spielt den empörten Schwager Cléante und Anne-Elise Minetti ist als Elmire die bedauernswerte Dame dieses desaströsen Haushalts.


Karola Schepp, 20.01.2020, Gießener Allgemeine Zeitung