Eine andere Geschichte - Gießener Anzeiger
12.09.2020

Was wäre wenn: Stadttheater-Schauspieler Tom Wild glänzt als Galerist des Kunstfälschers Hitler

Das Spiel mit der Geschichte ist so faszinierend wie populär. Der britische Bestsellerautor Robert Harris erzählt in seinem Roman „Vaterland“, wie düster Europa aussah, nachdem Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Und Science-Fiction-Großmeister Philip K. Dick entwarf in dem bereits 1962 veröffentlichten Roman „Das Orakel der Berge“ sogar die Dystopie einer von den Kriegsgewinnern Deutsches Reich und Japan besetzten USA – worauf auch die bis 2019 von Amazon produzierte Erfolgsserie „The Man in the High Castle“ basiert. All diesen Stoffen ist die gruselige Annahme gemeinsam, dass Hitler als Sieger aus dem blutigen Ringen der Nationen hervorgegangen wäre. Der Leipziger Autor Tom Peuckert hingegen geht in seinem monologisch angelegten Stück „Das Leben des H. erzählt von seinem Kunsthändler“ einen quasi entgegengesetzten Weg. Bei ihm stürzt der wegen vermeintlicher Talentlosigkeit von der Wiener Akademie geworfene Kunststudent H. nicht zwei Jahrzehnte später als Nazi-Führer die Welt in den totalitären Abgrund – weil er zuvor bereits als junger Mann einen biografischen Abzweig nahm und sich zum erfolgreichen Kunstfälscher entwickelte.

Das Stadttheater Gießen übernahm die 2018 ursprünglich als Hörspiel konzipierte Geschichte und sorgte am Donnerstagabend für die Bühnen-Uraufführung dieses Stoffs. Hausregisseur Patrick Schimanski verlegt den Spielort dazu passenderweise in die Galerie 23 im Seltersweg, in der sich Schauspieler Tom Wild zwischen Gemälden, Skulpturen und einem großen Schreibtisch hin- und herbewegt. Mehr Bühne bietet sich dem langjährigen Ensemblemitglied nicht – doch Wild weiß den kleinen Kellerraum souverän mit seiner Präsenz zu füllen.

Die Geschichte beginnt mit dem Kennenlernen der Beiden im Jahr 1913 vor der Münchner Feldherrenhalle, wo der ausschließlich H. genannte Braunauer seine Kopien bekannter Maler verkaufte. Der Galerist erkennt das besondere Talent des jungen Mannes und treibt ihn dazu, fortan die in dieser Zeit besonders gewinnbringenden französischen Impressionisten zu fälschen. Und so erzählt der gewitzte, durchtriebene aber auch reichlich eitle Kunstmarktexperte, welches außergewöhnliches Talent er sich da in den kommenden 32 Jahren zunutze machen sollte. Bis die Geschichte 1945 ein jähes Ende findet – auf der Flucht in Japan.

Und so ist dieser vom Galeristen beschriebene H. beides: ein hochtalentierter Kopist, der sich auf empathische Weise in die Gemütszustände der von ihm abgekupferten Malerstars hineinversetzen kann. Aber auch willfähriges Werkzeug in den Händen seines cleveren Kompagnons, der den bisweilen mit sich hadernden H. immer wieder auf die unrechte Bahn zurückzubringen versteht.

Tom Wild nutzt als Galerist verschiedene Tonlagen, um diesen eigentümlichen Charakter zu beschreiben. Er schwärmt und lobt, er denunziert und verspottet – und rühmt sich gleich zu Beginn seines Auftritts, H. zu dem gemacht zu haben, der dieser Mann bis zu seinem Tode ist. So verbindet und verschränkt das rund 65-minütige Stück Geschehnisse mit fiktionalen Elementen. Hitler ist ein Wüterich mit schmalem Bärtchen, der Richard Wagner liebt, das Deutsche grotesk verherrlicht und mit einigem Talent nationalistische Bierzeltreden hält. Aber auch ein etwas weinerlicher Zeitgenosse, der Torten und Gebäck ebenso liebt wie die Politik und im Zweifel dann doch den Ganoven-Reichtum der Reichstags-Karriere vorzieht.

Das bietet einige amüsante Momente, und man hätte gerne noch einiges mehr erfahren über diesen H., dessen Meisterschaft schließlich sogar soweit reicht, den großen Albrecht Dürer nachzuahmen. Doch Autor Peuckert (und mit ihm Schauspieler Tom Wild) verlässt irgendwann diese fiktive Charakterzeichnung und wendet sich im Laufe des Stücks verstärkt einem zweiten Thema zu: dem Kunstfälscher-Geschäft. Dieses Motiv ist offensichtlich stark von der Geschichte des exzentrischen Deutschen Wolfgang Beltracci geprägt, der jahrelang die Kunstwelt mit gefälschten Meisterwerken narrte, bis er 2011 aufflog. So erzählt Kunsthändler Wild etwa, wie Farben eines Dürer-Bildes gemischt werden müssen, um nicht aufzufliegen. Wie sich Gutachter mit fiktiven Herkunftsgeschichten der Bilder narren lassen. Und wie der ganze Schwindel schließlich doch ans Licht kommen konnte. Es ist quasi eine zweite halbfiktionale Geschichte, für die der erdachte H. nicht nötig gewesen wäre. Dennoch sorgt Schauspieler Tom Wild mit diesem Monolog für ein durchgehend überzeugendes Solo, dessen letzte Satz zu den stärksten des Abends gehört. Was wäre also wohl aus H. geworden, wenn er den Kunsthändler nicht getroffen hätte? Sicher ist: „Glücklich hätte er niemanden gemacht.“


Björn Gauges, 12.09.2020, Gießener Anzeiger