Flammende Erotik - Gießener Allgemeine Zeitung (08.06.2019)
08.06.2019

Rot ist die Liebe. Die Glut. Das Feuer. »Carmen« heißt die Frau in Rot von Choreograf Ivan Strelkin im taT. Nur eine Frau? Drei Frauen. Mindestens.

Sie zählt zu den beliebtesten Opern: »Carmen« (1875) von Georges Bizet ist von der Bühne nicht mehr wegzudenken. Hier brennen das Feuer und die Leidenschaft, die Leiden schafft. Komponist Rodion Shchedrin hat 1967 daraus eine komprimierte Fassung gemacht, eine Ballettmusik ohne Gesang. Seine Suite für Streicher und Schlagwerk dauert, von der Habanera bis zu »Auf in den Kampf Torero«, nur 45 Minuten anstatt der fast drei Stunden bei Bizet. Choreograf Ivan Strelkin nutzt Shchedrins »Carmen« für seine erste Arbeit. Der Name sorgt per se für ein volles Haus, wie die Premiere der Tanzcompagnie Gießen im Rahmen des TanzArt-Festivals am Donnerstag im Kleinen Haus des Stadttheaters, dem taT, beweist.

Die gleichnamige Novelle von Prosper Mérimée (1847) erzählt die tragische Liebesgeschichte des Zigeunermädchens Carmen und des Soldaten José im spanischen Sevilla. Strelkin bringt dazu sechs Tänzer (drei Frauen, drei Männer) auf die Bühne, die sich umschwirren wie Motten das Licht. Der Choreograf hatte seine »Carmen« für das Folkwang-Tanzstudio in Essen (Uraufführung 2018) mit fünf Tänzern konzipiert, in Gießen sorgt er für sexuelles Gleichgewicht und eine Fortentwicklung des Stückes, auch wenn die Fünfer-Szenen dem Original entsprechen.

Die Männer (eine Wucht: Patrick Cabrera Touman, Michael D’Ambrosio, Sven Krautwurst) sind allesamt José, die Frauen Carmen (enorm präsent: Laura Ávila, Julie De Meulemeester, Magdalena Stoyanova). Wobei das Damen-Trio im roten Bühnenviereck vielschichtiger daherkommt, was allein schon der variable Namensaufdruck auf ihren knappen roten Leibchen signalisiert, während bei den Männern das »José« und später der »Torero« akkurat auf der Brust prangen (Kostüme: Sandra Li Maennel Saavedra). Rot ist die Farbe der Liebe und der Carmen und nicht umsonst beinhaltet der Begriff erotisch die Farbe Rot, weshalb zum Ende hin alle zum Vamp werden - oder bei den Männern doch zumindest Touman, der sich ins rote Flamenco-Kleid zwängt, das bei ihm die Aufschrift »Fate« trägt: Schicksal. Zuvor haben die Frauen in ihren Soli sämtliche provokativen Register ihrer Weiblichkeit gezogen. Die Details machen den Abend aus. Die in einer Zigarettenfabrik arbeitende Carmen raucht mithilfe der zum V gespreizten Zeige- und Mittelfinger an den Lippen. Die Hand der Tänzer wird zum Fächer - zum Handfächer. Die abgehobenen Flieger-Figuren von Krautwurst und D’Ambrosio sind spitze, während der angedeutete Spitzentanz Humor versprüht. Die Mimik zeigt: Es inszeniert ein Theaterregisseur.

Und dann sind da noch die sexuellen Komponenten. Die Füßchen-Liebelei von Stoyanova und Touman ist ein Erlebnis. Die Pas de deux skizzieren jeweils das aktuelle Verhältnis zwischen Carmen und José. Im Flamenco-Kleid wird die fleischgewordene Versuchung zur Zerstörerin. Zwischendurch blitzt in den Gruppenszenen Synchrones auf, wie in der Beziehung der Protagonisten, ehe sie wieder auseinanderbricht. Apropos: Vor der durchbrochenen Bühnenwand finden die Charaktere zu sich selbst. Die Liebe endet diesmal nicht tragisch, bleibt aber bis zum letzten Fußtritt der Carmen hoch erotisch.


Manfred Merz, 08.06.2019, Gießener Allgemeine Zeitung