Gießener Saisonstart mit gedämpfter Euphorie - Gießener Anzeiger
07.09.2020

Die Spielzeitpräsentation des Stadttheaters Gießen lieferte eine bunte Show und viele zündende Ideen. Es gab originelle Rückblicke und beunruhigende Ausblicke.

Die Auszeit war lang. Zwischenzeitlich hätte man sich auch einmal über eine kleine Präsentation im Theaterpark oder anderswo unter freiem Himmel gefreut. Doch nun ist die Zeit des Bühnenverzichts vorüber, am Wochenende öffnete das Stadttheater Gießen wieder Studiobühne taT und das Große Haus. Nach den Premieren von "König Ubu" und "Macbeth" gab es am Sonntagabend nun also die Präsentation der Spielzeit 2020/21. "Ein bisschen anders als sonst und in anderen Formen", betonte Intendantin Cathérine Miville in ihrer Begrüßung. "Wir spielen wieder, und ich freue mich sehr, Sie alle hier begrüßen zu können".

Auch einen Rückblick in die Zeit des Shutdowns kündigte Miville an. Denn wie sich zeigte, hat Goethes unsterblicher Werther auch die Covid-19-Zeiten überlebt. Ensemble-Schauspieler Magnus Pflüger hat sich beim Rezitieren des berühmten Prosatextes selbst gefilmt. Köstlich ist die Szene "Werther I": Sie spielt direkt am Brunnen der Südanlage/Westanlage, besser bekannt als Elefantenklo. Auch im "Werther"-Roman kommt ein Brunnen vor, aus Marmor freilich und von guten Geistern umschwebt. Ein Blick in den menschenleeren Seltersweg hat dokumentarischen Wert: Das geht nur im Shutdown. "Werther II" ist naturphilosophischen Überlegungen gewidmet, als Kulisse sind Bäume und Felder rund um den Bismarckturm wunderbar geeignet. Dann folgen in "Werther III" noch Goethes Erinnerungen an das unvergessliche Tanzvergnügen im Jagdhaus Volpertshausen. Pflüger schlüpft im Video gleich in drei Rollen und erschien dann auch noch persönlich auf der Bühne. Zu verfolgen sind diese Szenen auf "Facebook/Stadttheater".

Doch "Werther" war nur ein Programmpunkt unter vielen bei dieser Präsentation. Alle drei Sparten hatten Gelegenheit, sich den Besuchern vorzustellen, mit neuen Stücken oder auch solchen, die wegen der Schließung des Hauses im März nicht aufgeführt werden konnten.
Weiter ging es in kleinerem Rahmen, und mit Abstand. Die Ouvertüre zu der recht opulenten Operette "Die Fledermaus" von Johann Strauß durch ein Horn-Quartett aufführen zu lassen, war geradezu ein Statement für die anlaufende Spielzeit. Später war eine weitere Kostprobe zu hören. Natascha Jung präsentierte die Arie "Spiel ich die Unschuld vom Lande". Ein wunderbares Scherzo von Louis Ganne ließ Carol Brown (Flöte) einfühlsam und technisch auf hohem Niveau zusammen mit Evgeni Ganev erklingen.

Von der Musik zum Schauspiel: Auch hier hatten sich die Akteure und Aktricen einiges einfallen lassen. "Wie ein Theaterstück entsteht" beschreibt in fünf Probephasen die Prozedur von der Leseprobe bis zur Generalprobe. Ein Paradestück für die Schauspieler Anne-Elise Minetti, Paula Schrötter, Carolin Weber und vor allem für Roman Kurtz als ältere Dame sowie Pascal Thomas als grüner Hüpfkäfer. Eine sehr amüsante Performance.

 Böse Zukunftsaussichten zeigte hingegen das Stück "Erinnya" des Österreichers Clemens J. Setz, das Corona im Frühjahr zum Opfer fiel und nun mit Lukas Goldbach in der Hauptrolle erneut auf dem Spielplan steht. Das Computerprogramm Erinnya gibt depressiven Menschen im alltäglichen Leben per Headset Antworten vor. Es sind allerdings Antworten, die nicht wirklich in den Kontext passen ...

Ab durch die Klappe

Zwei kleine Ausschnitte waren vom durch Corona arg gebeutelten Tanztheater zu erhaschen. Die Tänzerin Julie de Meulemeester stellte eine "Carmen"-Intervention vor, begleitet von Patrick Schimanski (Percussion). Es folgte ein Auszug aus dem Tanzabend "Don Juan" von Tarek Assam, getanzt von Jeremy Curnier.

Dem Abend mangelte es nicht an zündenden Ideen: Die Moderatoren und Dramaturginnen, die durch den Abend führten, verschwanden durch eine Klappe ins Untergeschoss, wenn sie die Redezeit von einer Minute überschritten. Wie vom Boden in einer Nebelwolke verschluckt: Carola Schiefke, Marisa Wendt, André Becker, Johannes Bergmann, Moritz Gogg, Florian Ludwig und Samuel Zinsli.

Neben anderen Programmnummern hervorzuheben ist die Band, die durchgehend im Hintergrund der Bühne präsent war. Martin Spahr (Piano), Patrick Schimanski (Percussion) und F. Höfliger (Gitarre). Die Musiker bescherten auch den Sound zum Ohrwurm "Always look on the bright side of life" mit Tomi Wendt und Anne-Elise Minetti. Das könnte auch der Hit dieser Stadttheater-Saison werden, wünschte sich Cathérine Miville und ermunterte alle Besucher zum Mitsingen. Wegen der Maskenpflicht war das allerdings allenfalls in Form eines leisen Summens möglich. Denn Abstands- und Hygieneregeln hatten selbstverständlich auch im Stadttheater ihre Gültigkeit. So galt eine Einbahnstraßenregelung, jede zweite Reihe im Saal blieb frei, und neben jedem Zuschauer mussten zwei Plätze unbesetzt bleiben. Auf diese Weise passten knapp 100 Menschen in das für mehr als 500 Personen ausgelegte Große Haus. Gedämpfte Euphorie: Es bleibt abzuwarten, was diese ganz spezielle Spielzeit bringen wird.


Ursula Hahn-Grimm, 07.09.2020, Gießener Allgemeine Zeitung