Glühende Gefühle ohne Berührung - Gießener Anzeiger (12.10.2020)
12.10.2020

Ivan Strelkins Choreographie von „Carmen“ wird zum Erfolg für Tanzcompagnie Gießen / Zwischen Freiheitsdrang und Treue

Drei wunderbare Carmen-Tänzerinnen: erotisch, ausdrucksstark, selbstbewusst. Da hatten es ihre männlichen Partner schwer, die gebührende Aufmerksamkeit zu finden. Ob José oder Torero, die Machos rund um die Stierkampf-Arena schienen wie die Repräsentanten einer vergangenen Welt. Kein Wunder, dass Carmen aus diesem Tanzabend als Siegerin hervorging. Agil und strahlend dominierte sie die Schlussszene, auch als sie nach dem Verlauf der Geschichte längst von ihrem eifersüchtigen Partner erstochen war.

Ein Tanzabend des russischen Choreographen Ivan Strelkin, der bereits in der vergangenen Spielzeit in der Studiobühne taT zu sehen war, nun aber unter Corona-Bedingungen gewissermaßen neu aufgelegt wurde. Das Publikum jedenfalls war sehr angetan und spendete minutenlangen Applaus.

Ein Tanzabend in Rot. Die Tänzerinnen und Tänzer trugen rote Kostüme, die komplett leere Tanzfläche war in rotes Licht getaucht. Für Bühne und Ausstattung sorgten Sergei Illarionov und Sandra Li Maennel Saavedra.

Rot ist die Farbe der Liebe, der glühenden Gefühle. Doch diese äußern sich nicht nur positiv, sondern können ins Gegenteil umschlagen, wie bei Jose, der von Carmen betrogen wird und sie in rasender Eifersucht mit einem Messer niedersticht.

Die Geschichte von Carmen ist so bekannt wie selten eine andere der klassischen Opernliteratur. Es ist die Geschichte vom unversöhnlichen Gegensatz von Freiheitsdrang und Treue. „Ich mag nicht eingezwängt und vor allem nicht herumkommandiert werden. Woran mir liegt, ist, dass ich frei bin und tun und lassen kann, was ich mag“, sagt Carmen in der literarischen Vorlage.

Große Verführerin

Der französische Komponist Georges Bizet hat die gleichnamige Novelle von Prosper Mérimée als Grundlage für seine Oper genommen, unvergleichliche Lieder und Arien sorgen dafür, dass seit ihrer Uraufführung 1875 die Oper Carmen eine der meistgehörten ist.

Für seinen Tanzabend greift der Choreograph auf eine Version seines russischen Landsmanns Rodion Shedrin zurück, der die Oper 1967 für eine Aufführung des Bolschoi-Balletts bearbeitet hatte. Er instrumentierte die bekanntesten Nummern nur mit Streichern und Schlagzeug, hebt damit psychologische Momente der Figuren hervor und erzeugt eine klangmalerische Atmosphäre. Shedrins Carmen-Interpretation ist ein bis heute häufig gespieltes Konzertstück.

Zum Gießener Tanzabend wird eine Live-Aufführung vom Band abgespielt, die Positionierung eines Orchesters ist in Corona-Zeiten so gut wie unmöglich. Der Choreograph greift damit auf eine harmonische und wohlklingende Ballettmusik zurück; dies ist bei der Einrichtung zeitgenössischer Tanzabende mit zum Teil modernen Klangstrukturen keine Selbstverständlichkeit. Die Uraufführung des Tanztheaterstücks von Ivan Strelkin fand 2018 mit dem „Folkwang Tanzstudio“ in Essen statt.

Die Modernität des Stückes ergibt sich aus dem vielschichtigen Rollenverständnis. Strelkin kommt es nicht auf die Chronologie der Ereignisse oder auf die Stringenz der Erzählung an, sondern auf die Affekte der Personen. So wird die Figur der Carmen gleich von drei Tänzerinnen dargestellt. Glanzrollen für Julie De Meulemeester, Magdalena Stoyanova und Chiara Zincone, die dem Publikum zum Teil im gemeinsamen Auftritt, zum Teil in kleinen Solo-Nummern die inneren Antriebskräfte und die psychologische Befindlichkeit der großen Verführerin präsentieren.

Einige der Gesten und Bewegungen sind direkt der Vorlage entnommen: Zum Beispiel finden sich Anklänge an die rauchende Arbeiterin einer Zigarettenfabrik oder auch Einblicke in die Garderobe der Stierkampf-Arena. In der Gießener Version wird zur Erinnerung (vielleicht sogar mit leicht ironischer Komponente) ein Kleiderständer mit bunten Kostümen auf die Bühne gerollt.

Feinfühlig und beharrlich

Mit großen Gesten erscheinen die drei Tänzer auf der Bühne, die zunächst José, im zweiten Teil den Torero darzustellen haben, die wechselnden Rollen sind jeweils kenntlich gemacht durch eine Aufschrift auf den Kostümen. Mit viel Ausdruckskraft und tänzerischem Geschick wenden sich Michael D’Ambrosio, Floriado Komino und Gleidson Vigne dem Objekt ihrer Begierde zu. Feinfühligkeit ist hier ebenso gefragt wie Beharrlichkeit, ein sehnsuchtsvolles Ausstrecken der Hand ist ebenso zu sehen wie das wütende Trommeln der Fäuste auf den Boden.

Hier sei noch einmal daran erinnert: Es handelt sich um Tanztheater in den Zeiten von Corona. Eine berührungsintensive Kunst muss nun ohne Berührungen auskommen, bei jedem Schritt sind die Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten. Diese neue Spielart hat das Gießener Ensemble erstaunlich gut geschafft.


Ulla Hahn-Grimm, 12.10.2020, Gießener Anzeiger