Groteske mit Abstand - Gießener Allgemeine Zeitung
05.09.2020

Mit Alfred Jarrys absurdem Stück »König Ubu« ist das Stadttheater in die Schauspielsaison gestartet. »Was für eine Schreisse!«, könnte man in Anspielung auf das erste Wort des Stücks ausrufen. Und das wäre dann noch nicht einmal despektierlich gemeint.

Als im Dezember 1896 Alfred Jarrys Stück »König Ubu« uraufgeführt und mit dem legendären Urschrei »Schreisse!«, im Original »Merdre!«, begann, da gab es Tumulte im Saal. Das ist fast 130 Jahre später so gut wie ausgeschlossen. Längst haben Fäkalsprache und wüste Ausdrücke ihren Weg in unsere Alltagssprache gefunden. Dem Spießbürger von heute ist so kaum mehr als ein tadelndes Heben der Augenbraue zu entlocken.

Schon allein von daher gab es keine geschockten Reaktionen im Publikum, als das absurde Stück nun in der taT-Studiobühne die Spielzeit eröffnete. Aber bei gerade einmal knapp 20 Maske tragenden Zuschauern und drei Schauspielern, deren Spiel coronakompatiblen Abstand wahren muss, war das ohnehin nicht zu erwarten.

Regisseur Christian Fries gelingt es aber, die Essenz des Stücks, abseits aller verbalen Eskapaden, herauszukitzeln: die Erkenntnis, dass das Böse ganz banal sein kann und Herrscher ohne Moral den Untergang bringen. Denn der skrupellose Ubu, eine Mischung aus machtgierigem Trottel und egomanischem Despoten, ist der Prototyp des durchgeknallten Staatsmanns. Und von denen gab und gibt es leider mehr als genug.

Fries tappt nicht in die Falle, mit allzu simplen Anspielungen auf aktuelle Machtpolitiker das Stück zu vereinfachen, sondern überlässt die Deutung den Zuschauern. Lediglich die Leberwurst, um die sich Vater und Mutter Ubu (David Moorbach/Johanna Malecki) streiten, mutiert zur modernen Currywurst.

Fäkalalarm inklusive

Anspielungen auf Shakespeares Königsdramen wie »Macbeth« und auf die Anfänge des Stücks als Marionettenspiel und Persiflage auf einen unbeliebten Lehrer Jarrys bleiben eher diffus. Riesig projizierte Nahaufnahmen mit der Handkamera, Schattenspiel und Klänge, die schon mal mit einem Hammer auf Klaviersaiten erzeugt werden, dienen der surrealen Überspitzung. Es macht durchaus Spaß, die Anspielungen zu entdecken.

Der von Imme Kachel (Bühne und Kostüme) mit schwarzen Biertischen und klettertauglichen Öffnungen in den Hintergrund gestaltete Bühnenraum erweist sich als ideale Fläche für das groteske Treiben.

Und genau da liegt die, den Corona-Umständen geschuldete Schwachstelle der Inszenierung, auch wenn Fries unter den gegebenen Umständen durchaus Beachtliches herausholt. Denn wenn König Ubu das eroberte Volk schikaniert, Adelige und Richter massakriert und mit seinem Gefolge, darunter auch der Einflüsterer Bordure (Stephan Hirschpointner), Orgien feiert, dann muss all das mit Abstand geschehen. Wo sich eigentlich Leiber wollüstig übereinander wälzen und Blut spritzen müsste, wird hier nur lasziv gestöhnt oder am Mikrofon der Gewalt mit Stimmakrobatik Ausdruck verliehen. Exzess sieht definitiv anders aus. Und auch wenn König Ubu, der auf offener Bühne »schreisst«, bleibt es zwangsläufig nur ein Abklatsch dessen, was ohne Corona-Alarm bei diesem Stück möglich gewesen wäre.

Auch die Anzahl der Schauspieler ist auf nur drei Darsteller reduziert, die die meisten der ein gutes Dutzend Figuren nur kurz aufblitzen lassen können. Da muss man schon höllisch aufpassen, wer denn nun gerade wen drangsaliert, auch wenn Moorbach, Malecki und Hirschpointner dieser herausfordernde Wechsel durchweg gut gelingt.


Karola Schepp, 05.09.2020, Gießener Allgemeine Zeitung