Hinter den Masken wird gegrinst - Gießener Anzeiger
05.09.2020

Assoziativ, grotesk und schwarzhumorig: Premiere von Alfred Jarrys „König Ubu“ auf der taT-Studiobühne

Avantgarde bedeutet, seiner Zeit voraus zu sein. Doch wie exakt es dem französischen Dramatiker Alfred Jarry gelang, die weit von ihm entfernte Zukunft abzubilden, konnte er selbst nicht im Entferntesten ahnen, als er sein Stück „König Ubu“ im Dezember 1896 in Paris uraufführen und zum grandiosen Theaterskandal werden ließ. Ein ordinärer, stumpfer, grotesk selbstverliebter und an sich selbst irre werdender Potentat ist dieser Titelheld, der seine Schandtaten irgendwo in Osteuropa vollbringt. Dieser Vater Ubu presst schon bald nach der Machtergreifung die Untertanen aus, räumt seine Widersacher aus dem Weg und wird erst von dem ihm vielfach überlegenen russischen Zaren eingenordet. Willkommen in der Wirklichkeit, willkommen im Belarus des Jahres 2020.

Ein irrer Potentat

Schon allein ob der derzeitigen Vorgänge im Land des Diktators Lukaschenko (Spitzname „Väterchen“) konnte Regisseur Christian Fries wohl kaum ein trefflicheres Stück wählen, um die Spielzeit 2020/21 am Stadttheater Gießen einzuläuten. Angelegt ist diese konkrete Lesart in seiner Inszenierung natürlich nicht. Irre Herrscher gab es schließlich zu allen Zeiten mehr als genug. Fries’ frei-assoziative Version von „König Ubu“ feierte am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne Premiere vor rund 20 Zuschauern. Mehr durften aufgrund der Corona-Sicherheitsvorgaben nicht in den kleinen Kellersaal hineingelassen werden. Es war eine von mehreren Hygienebestimmungen, die auf absehbare Zeit die „Neue Normalität“ des Theaterbesuchs bestimmen werden. Dazu gehört das Tragen einer Maske im Saal ebenso wie das Abstandhalten – auch das der drei Darsteller während des Spiels im kargen Bühnenraum. Und so lieferte dieser rund 70-minütige Theaterabend auf der einen Seite einen ersten Gießener Fingerzeig, mit welchen ästhetischen Möglichkeiten Geschichten künftig auf der Bühne erzählt werden. Zum anderen zeigte „König Ubu“ mit einiger Wucht, wie wichtig es ist, endlich wieder Verfremdung, Fantasie und Assoziationskraft nutzen zu können, um im direkten Kontakt mit dem Publikum zeitlose Themen zu verhandeln. Denn Corona ist nun wahrlich nicht alles.

Regisseur Fries, in Gießen zuletzt mit einem Solo als Büchners „Lenz“ zu sehen, ist ein Freund der reduzierten Form. Die Spielfläche ist weitgehend schwarz (Bühne und Kostüme: Imme Kachel). Es gibt ein paar Stühle, einen langen Tisch, eine Kamera, einen Monitor, ein altes Klavier, zwei Türen und ein bisschen Requisiten-Kleinkram. König Ubu (David Moorbach), Mutter Ubu (Johanna Malecki) und Widersacher Bordure (Stephan Hirschpointner) tragen schicke Businesskleidung, wenn die Groteske um Macht und Machtmissbrauch beginnt. Doch bald schon rutscht hier allen alles auseinander, die Sakkos verschwinden, die Hemden hängen über den Hosen und Ubu tauscht nach der Thronbesteigung seine schwarzen Lackschuhe gegen ein Paar schwere Stiefel, mit denen er in alle Richtungen treten kann.

Währenddessen wird wild drauflosschwadroniert. Die stilisierte Kunstsprache „Dies und das, da und dort“ macht eine Menge Spaß, und angesichts all der Obszönitäten (allen voran das berühmte „Schreiße!“), die sich das asoziale Trio um die Ohren haut, lässt es sich hinter der Mund-Nase-Maske schamlos hämisch grinsen. Ach ja: Corona. Fast hätte man es bei all dem Bühnentrubel zwischendrin vergessen. Denn allein die Bewegungen der drei blendend aufgelegten Schauspieler sind so geschickt choreographiert, dass erst nach einer Weile auffällt, dass sie sich nie näher als anderthalb Meter kommen.

Doch spätestens in den Kampf- und Meuchelszenen lässt sich diese Vorgabe natürlich nicht mehr überspielen. Und so wählen Regisseur Fries und sein auch körperlich gefordertes Trio die Methode Comic-Überzeichnung, wenn es dem Gegenüber an den Kragen geht. Da gibt es dann Lautmalereien wie bei der legendären Entenhausen-Übersetzerin Erika Fuchs, oder Johanna Malecki drückt sich einfach selbst die Luft ab. Erstaunlich, wie es bisweilen gelingt, mit einfachsten Mitteln Szenen zu versinnbildlichen. Wenn der blutrünstige Ubu etwa seine Gegner reihenweise töten lässt und sich Stephan Hirschpointner eins ums andere Mal mit eingeknicktem Kopf an den Türbalken hängt, dann ist das ein so simples wie starkes Bild. Und auch die von den Schauspielern selbstgedrehten Videosequenzen können einiges an erzwungener Distanz wettmachen. Auch damit spielt dieses Stück, wie es in nächster Zukunft sicher viele andere Inszenierungen ebenso tun werden.

Natürlich lassen sich die durch die Corona-Regeln erzwungenen Defizite inszenatorisch dennoch nicht gänzlich kompensieren. Doch sorgt diese lohnende Inszenierung sofort wieder für das Glücksgefühl, das die Theatergänger so lange vermissen mussten. Ubu, dieser eklige, bösartige, unerträgliche Drecksack, eröffnet die Saison – und hinterlässt ein beseeltes Publikum. Wenn das keine Kunst ist ...


Björn Gauges, 05.09.2020, Gießener Anzeiger